Energiestreit:Ersatzdroge Atomkraft

Kann und darf die Atomkraft als Ersatz für Öl, Gas und Kohle dienen? Über diese Frage ist ein heftiger Streit ausgebrochen - in dem Befürworter und Gegner gerne die Schwachstellen ihrer Argumentation übersehen.

Patrick Illinger

Die moderne Zivilisation erwacht zurzeit aus einem Rausch. Öl, Gas und Kohle gehen zur Neige, jene Brennstoffe, von denen sich die Industrienationen auf gefährliche Weise abhängig gemacht haben.

Energiestreit: Hunderte Atomgegner Anfang Juli bei einer Demonstration gegen die geplante Flutung des Atommüll-Lagers Asse

Hunderte Atomgegner Anfang Juli bei einer Demonstration gegen die geplante Flutung des Atommüll-Lagers Asse

(Foto: Foto: dpa)

Jahrzehntelang hat billiges Erdöl die Welt in die euphorisierende Illusion versetzt, man könne sich über die Begrenztheit dieses Planeten hinwegsetzen. Nun, da die Nachteile des hemmungslosen Verbrauchs der in Jahrmillionen entstandenen fossilen Bodenschätze immer offensichtlicher werden, kommt Katerstimmung auf wie bei einem Rauschgiftentzug.

Die gewohnten Dosen, Barrel genannt, werden erschreckend teuer, und es passiert das Gleiche wie im Drogenmilieu: Die Beschaffungskriminalität nimmt zu, und man sucht gierig nach Ersatz. Die ersten Staaten mit (noch) reichhaltigen Ölvorkommen werden politisch erpresst. Gleichzeitig schielen die Industrieländer auf einen schnellen Ersatz, um die übermächtige Gier nach Energie zu befriedigen.

Dieses Mittel ist nun die Atomkraft. Sie soll der von hemmungsloser Energieverschwendung degenerierten Zivilisation ihre Illusionen erhalten, so wie Methadon bei Heroinsüchtigen.

Noch vor wenigen Jahren wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass das Ansehen der Kernenergie noch einmal einen solchen Aufschwung erleben könnte. Liest man die jüngsten Lobpreisungen mancher Kernenergie-Befürworter, fühlt man sich fast schon an Verheißungen der 1950er-Jahre erinnert, in denen allen Ernstes Atomküchen und nuklear betriebene Autos angekündigt wurden.

Gleichzeitig stemmen sich die in Deutschland besonders hartnäckigen Atomkraftgegner mit Slogans und Argumenten der 80er Jahre gegen die Renaissance der Kernenergie. Zwischen beiden Lagern klafft eine Lücke, die kaum größer sein könnte.

Beide Seiten übersehen dabei gerne die Schwachstellen ihrer Argumentation. Wenn Befürworter vorbehaltlos von der grenzenlosen Sicherheit moderner Atomanlagen schwärmen, müssten ihnen eigentlich Zwischenfälle wie jüngst im französischen Tricastin, die Knallgas-Explosion 2001 in Brunsbüttel oder der Unfall vor neun Jahren im japanischen Tokaimura die Schamesröte ins Gesicht treiben.

Mit peinlicher Gelassenheit übergehen Nuklearfreunde auch die Frage, wie der in Kernkraftwerken jährlich zu Tausenden Tonnen anfallende hochradioaktive Abfall entsorgt werden soll. Kann man künftigen Generationen ernsthaft zumuten, dass wir enorme Mengen strahlenden Mülls, darunter das extrem giftige Plutonium, einfach verbuddeln?

Zweifel sind angebracht, wenn schon bei der Erprobung möglicher Schachtanlagen wie jener bei Asse plötzlich unbeherrschbare radioaktive Salzlaugen zwischen die testweise eingelagerten Fässer schwappen. Sicher ist es besser, Löcher für den Abfall zu graben, als das Zeug planlos und zuhauf in oberirdischen Zwischenlagern zu horten, wie es zurzeit geschieht. Eine echte Lösung des Abfallproblems ist es nicht.

Ersatzdroge Atomkraft

Doch auch viele Kernkraft-Gegner machen es sich zu leicht. Wer zurzeit seinen Atomkraft-nein-danke-Anstecker wieder aus der Schublade kramt, muss sich fragen, wie die pauschale Ablehnung einer CO2-armen Form der Energiegewinnung mit dem Klimaschutz vereinbar ist. Und bei Atomkraftgegnern endet die theoretische Befürwortung regenerativer Energieformen meist abrupt, wenn das erste Windrad in Sichtweite des eigenen Vorgartens steht.

Was also ist richtig? Den deutschen Atomausstieg im Alleingang gegen den Rest der Welt fortzusetzen? Oder dem Rat der Internationalen Energieagentur zu folgen, die 1500 neue Atomkraftwerke weltweit empfiehlt? Die Antwort hängt davon ab, welche zeitlichen und geographischen Maßstäbe man anlegt.

Trügerische Illusion

Kurzfristig spielt es kaum eine Rolle, ob Deutschland seine existierenden 17 Reaktoren ein paar Jahre mehr oder weniger laufen lässt, bis der Ausstieg, oder, besser noch, der Umstieg auf ein grundsätzlich neues Energiesystem gelingt.

Auch im europäischen Maßstab ist das deutsche Nein belanglos: Wer ernsthaft glaubt, sicherer zu leben, wenn die Meiler in Biblis oder Philippsburg abgeschaltet werden, der möge eine Landkarte aufschlagen, auf der sämtliche europäischen Nuklearanlagen eingezeichnet sind, insbesondere jene in Frankreich - und dabei die vorherrschenden Windrichtungen beachten. So gesehen wirkt das deutsche Nein zur Kernkraft wie das Ergebnis einer Stammtischdebatte in Krähwinkel.

Vergrößert man jedoch den Maßstab zeitlich wie räumlich, so ergibt sich ein anderes Bild. Uran ist, wie Erdöl, Gas und Kohle, ein endlicher Stoff. Zwar wird sich das strahlende Metall noch ein paar Jahre länger aus der Kruste dieses Planeten kratzen lassen, wenn der Ölpreis längst unerträgliche Höhen erreicht hat. Aber was kommt dann? Die Kernkraft kann bestenfalls ein paar weitere Jahrzehnte lang die trügerische Illusion von grenzenloser Energie erhalten.

Entsprechend würde die Erforschung und Entwicklung regenerativer Energieformen ins Stocken geraten. Die Spannung, die hierin steckt, ist bereits konkret spürbar. Im bayerischen Bezirk Schwaben zum Beispiel bangt die Industrie um das Atomkraftwerk Gundremmingen, das die Region zu 90 Prozent mit Strom versorgt. Gleichzeitig gibt es dort Firmen, die sich zurzeit vor Aufträgen kaum retten können, weil sie Getriebe für Windrotoren herstellen.

Ersatzdroge Atomkraft

Doch die wohl größte Gefahr der Atomkraft ergibt sich aus weltpolitischer Sicht. So wie man heute in ärmeren Ländern die Mercedes-Modelle aus den 1970er-Jahren antrifft wird sich auch die Atomtechnik bis in die letzten Winkel der Erde verbreiten.

Standardarsenal von Dritte-Welt-Staaten

Die für Nuklearanlagen notwendigen Materialien, Maschinen und Kenntnisse werden sich nicht mit völkerrechtlichen Instrumenten auf Gegenden beschränken lassen, die im Sinne der westlichen Industriestaaten als vertrauenswürdig gelten. Leider gehört es zum Wesen der Kernkraft, dass ihre friedliche Nutzung und die Herstellung von Atomwaffen untrennbar verknüpft sind.

Wenn die Welt in Zukunft wieder verstärkt auf Kernkraft setzt, wird sie auf Dauer akzeptieren müssen, dass Atombomben zum Standardarsenal von Dritte-Welt-Staaten gehören werden.

Alles in allem wäre es weitaus besser, den Druck des hohen Ölpreises zu nutzen, um den Umstieg auf ein völlig neues, dezentrales Energiesystem voranzutreiben. Ein Energiesystem, bei dem nicht gigantische, schwer beherrschbare Kraftwerksblöcke Strom in internationale Netze pumpen, sondern Energie dezentral, und mit regional adäquaten Methoden aus regenerativen Quellen gewonnen wird.

Eines Tages wird der Menschheit so oder so nur die Sonne als Energiequelle bleiben. Diesen Tag sollten wir erreichen, möglichst ohne größere Katastrophen auf dem Weg dahin.

Sicherlich wird der Umstieg nach den Jahren des Ölrauschs zunächst schmerzhaft sein. So ist das beim Entzug von einem gewohnten Rauschmittel. Doch dahinter wartet eine lebenswertere und weit weniger gefährliche Welt.

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