Interview mit DDR-Schriftstellerin Elfriede Brüning (2010):"Wir dachten, man müsste das Volk zum Glück zwingen"

Geboren vor 100 Jahren, Autorin seit 85 Jahren: Elfriede Brüning spricht über den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis, sozialistische Illusionen und das Gefühl, im wiedervereinigten Deutschland ein "Waisenkind" zu sein.

Oliver Das Gupta

Kindheit im Kaiserreich, politisches Engagement in der Weimarer Republik, kommunistischer Widerstand im Dritten Reich, Leben in der DDR: Elfriede Brüning erlebte ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Sie hat 30 Bücher verfasst, die Gesamtauflage liegt etwa bei 1,5 Millionen Stück; ihre Autobiographie Und außerdem war es mein Leben erschien bereits 1994.

Elfriede Brüning wird 100

Elfriede Brüning: "Wir strotzten nur so vor Idealismus."

(Foto: dpa)

Brüning war schon vor Hitlers Machtergreifung in der KPD, später in der SED, inzwischen ist sie Mitglied in der Linkspartei. Trotz offizieller Ehrungen seitens der DDR - unter anderem erhielt sie den Vaterländischen Verdienstorden in Gold - hatten die Oberen mit der sozialkritischen Brüning ihre Mühe.

Heute, am 8. November 2010, feiert die Schriftstellerin ihren 100. Geburtstag. Für die Jubilarin findet ein Festakt in der Berliner Volksbühne statt, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hält die Laudatio.

Für das folgende Gespräch bittet Brüning in ihre Ostberliner Wohnung, die - man mag es kaum glauben - eher bürgerlich wirkt mit all den Büchern und den eleganten Möbeln. Elfriede Brüning serviert Kaffee und Kuchen, dabei erzählt sie, wie gerne sie Auto gefahren ist. Das ist nun vorbei: Sie hat ihren Führerschein abgegeben.

sueddeutsche.de: Frau Brüning, von Ihren 100 Lebensjahren haben Sie die vergangenen 20 im wiedervereinigten Deutschland verbracht. Sind Sie, die überzeugte Sozialistin, inzwischen angekommen in der Bundesrepublik?

Elfriede Brüning: Nein. Ich fühle mich wie ein Waisenkind in diesem Land.

sueddeutsche.de: Was gefällt Ihnen nicht?

Brüning: Vor allem stört mich dieser ausufernde Kapitalismus, den ich ja schon in meiner Jugend bekämpft habe.

sueddeutsche.de: Sie traten mit 20 der KPD bei.

Brüning: Damals, Anfang der dreißiger Jahre, dachten wir ernsthaft, Deutschland stünde vor der großen proletarischen Revolution.

sueddeutsche.de: Die Revolution kam ja dann auch - allerdings von Rechtsaußen 1933. Da hatten Sie schon Ihren ersten Roman verfasst.

Brüning: Allerdings konnte er wegen Hitlers Machtergreifung nicht erscheinen. Erst sehr viel später, im Jahre 1970, wurde er unter dem neuen Titel Kleine Leute veröffentlicht. Ab 1925 habe ich nebenher journalistisch gearbeitet.

sueddeutsche.de: Wie kam es, dass Sie als junge Frau sogar für das Feuilleton des äußerst renommierten Berliner Tageblatts schreiben durften?

Brüning: Mit einer List. Mit 15 hatte ich ja schon publiziert, kleine Schmonzetten und anderes im 12-Uhr-Blatt. Irgendwann schrieb ich ein Stück und sagte meiner Mutter im Überschwang: "Das muss ins Tageblatt!".

sueddeutsche.de: Aber wie kamen Sie da ran?

Brüning: Mehr als 82 Jahre ist das her, ich war 17 Jahre alt. Ich arbeitete als Büroangestellte und wusste, dass mein Vorgesetzter den Feuilleton-Chef des Tageblatts, Fred Hildenbrandt, kannte. Nun urlaubte mein Chef zu dieser Zeit in seiner Heimat Ungarn. Aus lauter Ungeduld schrieb ich in seinem Namen an Hildenbrandt.

sueddeutsche.de: Sie fälschten einen Brief?

Brüning: Es war halbkriminell! Ich schrieb: "Sehr geehrter Herr Kollege. Ich schicke Ihnen hier den Beitrag einer jungen Autorin, die ich für sehr begabt halte" (lacht). Postwendend kam Antwort. Ich wurde fortan gedruckt. Übrigens dann auch in anderen Zeitungen wie der Vossischen Zeitung.

sueddeutsche.de: Das sind berühmte Blätter der Weimarer Zeit, die bürgerlich ausgerichtet waren und später durch die braunen Machthaber gleichgeschaltet oder geschlossen wurden. Nach dem Krieg machten Sie sich als überzeugte Kommunistin daran, den Sozialismus auf deutschem Boden mit aufzubauen. War Ihnen nicht damals schon klar, dass dieser Staat langfristig so nicht funktionieren kann?

Brüning: Nein, denn wir strotzten nur so vor Idealismus. Natürlich sahen wir auch die Probleme, aber der Glaube an eine bessere Zukunft nach all den dunklen Jahren überstrahlte vieles. Voller Zuversicht wollten wir mithelfen, ein neues, gerechtes Deutschland aufzubauen.

sueddeutsche.de: Wie sah Ihre literarische Aufbauhilfe aus?

Brüning: Mich hat damals beispielsweise fasziniert, wie junge Leute die Chance hatten, von der Werkbank noch einmal wegzukommen und zu studieren - ohne Abitur! Das war handfester Fortschritt, das wollte ich würdigen. Über diese Arbeiter- und Bauernfakultät habe ich Anfang der fünfziger Jahre auch ein Buch geschrieben.

sueddeutsche.de: Man könnte auch sagen, dass Sie eine Errungenschaft des Sozialismus priesen - und dafür dementsprechend belobigt wurden.

Brüning: Sie irren. In den frühen Jahren der DDR wurde wahnsinnig viel über Literatur diskutiert. Gerade auch das erwähnte Buch weckte großen Widerspruch.

sueddeutsche.de: Wie lautete die Kritik?

Brüning: Man warf mir vor, nicht die Studenten zu beschreiben, wie sie sein sollten. Sondern so zu beschreiben, wie sie wirklich seien.

sueddeutsche.de: Man warf Ihnen vor, die Realität zu beschreiben? Warum soll das falsch sein?

Brüning: So war das eben. Die Dozenten wollten sogar, dass das Buch aus dem Handel genommen wird. Ein anderes Buch von mir, Regine Haberkorn, wurde wochenlang und kontrovers in der Presse besprochen - darin ging es um eine Hausfrau, die berufstätig wird und deren Ehe deshalb scheitert. Sie sehen also, dass zu Beginn der DDR durchaus literarische Meinungspluralität vorhanden war.

"Ich habe immer kämpfen müssen"

sueddeutsche.de: Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 dürfte das vorbei gewesen sein.

Berlin Mauerbau 1961

Als Walter Ulbricht Westberlin einmauern ließ: Ostberliner Maurerkolonne errichtet an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze am Potsdamer Platz eine mannshohe Mauer. Das Bild entstand am 18. August 1961.

(Foto: dpa)

Brüning: Danach wurde ein Buch entweder in den Himmel gelobt. Oder man kehrte Literatur unter den Tisch. Ich habe immer kämpfen müssen.

sueddeutsche.de: Haben Sie Erfahrungen mit Zensur gemacht?

Brüning: Nicht direkt. Aber ich wusste ja von vornherein, was man nicht schreiben kann. Die innere Zensur war sicherlich da.

sueddeutsche.de: Frau Brüning, Sie haben trotzdem immer wieder auch kritische Themen aufgegriffen, die bei der Staats- und Parteiführung nicht gut ankamen. Warum haben Sie das getan?

Brüning: Weil ich mich nicht nur dem Sozialismus, sondern auch der Realität verpflichtet fühlte.

sueddeutsche.de: Aber in der DDR war ja angeblich alles prima.

Brüning: War es natürlich nicht. Und als Autorin wollte ich doch auch dort hingehen, wo eben nicht alles heile ist. Ich habe meine Arbeit stets sozialkritisch verstanden.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel für so ein heikles Thema nennen?

Brüning: In den sechziger Jahren habe ich Reportagen über Jugendfürsorge geschrieben. Für die Recherche habe ich mich an die Hacken einer Helferin der Jugendfürsorge geheftet. Damals habe ich Zustände gesehen, die ich in der DDR nicht für möglich gehalten hatte.

sueddeutsche.de: Was haben Sie bei Ihrer Recherche erlebt?

Brüning: Abgründe, die unsere Medien schlichtweg verschwiegen hatten. Fälle von Alkohol- und Drogenmissbrauch und auch Kindesmisshandlung. Über so etwas wurde einfach nicht geredet, und darüber sollte auch nicht geschrieben werden. Jugendliche auf Abwegen gab es offiziell nun mal nicht, sondern nur stramme FDJler. Diese Recherchen ernüchterten mich stark. Und ich zweifelte an meiner DDR. Die Reportagen erschienen dann im Buch Kinder ohne Eltern, welches nur in einer Mini-Auflage von 5000 gedruckt wurde - bei 17.000 Vorbestellungen.

sueddeutsche.de: Das Buch ist 1968 erschienen, also Jahre nach Volksaufstand, Mauerbau und dem Ausbau der Staatssicherheit. Sind Ihnen nicht schon früher Zweifel gekommen?

Brüning: Nun ja, ich habe lange daran geglaubt, dass die Probleme gelöst und die Fehler wieder gutgemacht werden könnten. Ein Ideal kann nun mal in der Realität nicht sofort und eins zu eins umgesetzt werden. So war mir klar, dass die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten gegen Kriegsende 1945 ein Tabu waren, aber ich hoffte, eines Tages könnte es aufgearbeitet werden. Und natürlich merkte ich auch vor dem Aufstand von 1953, dass es gärte.

sueddeutsche.de: Beim Volksaufstand verkündete das Regime von Walter Ulbricht, der Westen habe die Unruhen initiiert - Sie wussten es besser?

Brüning: Ich arbeitete beim neugegründeten Sonntag, der heute Der Freitag heißt, und pendelte zwischen Berlin und Birkenwerder. Man musste nur in den Vorortzügen die Ohren offen halten. Alle waren unzufrieden, alle meckerten. Wenn man sich dagegengestellt hätte, wäre man gelyncht worden. Wir waren einfach zu wenige, die den Idealismus in sich trugen. Der Hunger machte damals viele Menschen stumpf für das Neue. Und es gab einfach noch eine Menge Nazis.

sueddeutsche.de: Demokratie bedeutet, dass das Volk herrscht. Aber das Volk in der DDR wurde beherrscht und ab 1961 eingesperrt. Warum kamen Ihnen erst so spät Zweifel, Frau Brüning?

Brüning: Damals dachten wir, man müsste das Volk zu seinem Glück zwingen. Die Mauer mussten wir bauen, sonst hätten wir die DDR schon damals aufgeben müssen. Die Leute sind uns weggelaufen. Es war furchtbar, dass wir das machen mussten.

sueddeutsche.de: Konnten Sie die unzähligen Menschen, die in den Westen geflohen sind, nicht verstehen?

Brüning: Es gab ja unterschiedliche Motive, manche verstehe ich. Die einen gingen, weil ihre Kinder keine höhere Schule besuchen konnten. Die kleinen Gewerbetreibenden gingen, weil man ihr Geschäft unmöglich gemacht hat. Die DDR hatte damals zum Teil furchtbare Fehler gemacht. Das dämmerte vielen erst viel später. Dass die DDR so sang- und klanglos verschwindet, hätte ich nicht für möglich gehalten. Dass das auf Dauer gut geht, allerdings auch nicht.

sueddeutsche.de: 1989 sind auch Sie auf die Straße gegangen. Wofür haben Sie damals demonstriert, wenn nicht für ein Ende dieses Staates?

Brüning: Ich wollte eine bessere DDR, aber keine Übernahme durch den Westen. Michail Gorbatschow begann mit Glasnost und Perestroika die Sowjetunion zu verändern, nur in der DDR-Führung blieb man starr. Bis zum Schluss habe ich wie viele auf die Reformfähigkeit der DDR gesetzt - eine trügerische Hoffnung.

sueddeutsche.de: Nach der Wende, im Jahre 1990, veröffentlichten Sie Lästige Zeugen?, ein Buch, in dem Sie die Erinnerungen von Frauen dokumentieren, die Stalins Gulags durchlitten hatten. Kam das nicht ein bisschen spät?

Brüning: Das war lange Zeit ein Tabuthema. Gerade die Opfer konnten erst spät darüber sprechen. Da war zum Beispiel die Genossin Trude Richter, die mit uns während der Zeit im Untergrund nach 1933 Karl Marx' Kapital studiert hat. Als es hieß, sie könnte in die Sowjetunion fahren, haben wir sie alle beneidet. Wir hörten nichts mehr von ihr. In den fünfziger Jahren tauchte Trude plötzlich wieder auf. Sie erzählte uns zwar einiges, aber schönte vieles. In den siebziger Jahren lernte ich Anni Sauer kennen, eine Tanzpädagogin. Auch sie war im Lager und durfte nicht darüber sprechen. Später, nachdem Gorbatschow auf der Bildfläche erschienen war und man in der Sowjetunion die Stalin-Zeit aufarbeitete, konnte Anni endlich erzählen.

"Es war wie eine zweite Bücherverbrennung"

sueddeutsche.de: Warum haben Sie diese Protokolle nicht früher veröffentlicht?

Depot des Kunstfonds in Dresden Bach Thälmann Ulbricht

Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann (1886 - 1944, l.) und der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht (1893 - 1973, r.). Die Aufnahme ist im Depot des Kunstfonds in Dresden entstanden. Zwischen den Kommunisten befindet sich eine Büste des Komponisten Johann Sebastian Bach.

(Foto: ddp)

Brüning: Aber das war doch in der DDR vor der Wende überhaupt nicht möglich! Im Sommer 1990 erschien das Buch dann. Aber es kam nicht mehr in den Handel: Wegen der Wiedervereinigung landete die gesamte DDR-Literatur auf den Müllhalden. Es war wie eine zweite Bücherverbrennung für mich.

sueddeutsche.de: Sie haben während der Nazizeit die Bücherverbrennungen miterlebt, schrieben Artikel für die in Prag erscheinende Exilanten-Zeitung Neue Blätter und konspirierten im Untergrund mit den Genossen vom verbotenen Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. War Ihnen damals klar, dass Sie in Lebensgefahr schwebten?

Brüning: Das schon, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte mich nicht einfach in die braune Diktatur fügen. Meine Eltern waren auch überzeugte Genossen. In der ersten Zeit nach der Machtergreifung hielten leitende Genossen der damals schon verbotenen KPD illegale Sitzungen bei uns ab: Walter Ulbricht kam eine Zeit lang fast täglich vorbei, er war offenbar der Quartiermacher und wirkte unnahbar. Wilhelm Pieck, später erster Präsident der DDR, war freundlich, jovial und gemütlich. Einmal kam sogar der legendäre KPD-Chef Ernst Thälmann vorbei, er wurde 1944 von den Nazis ermordet. Ich engagierte mich nach Hitlers Machtergreifung weiter im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Bis wir 1935 aufflogen.

sueddeutsche.de: Wie ist das passiert?

Brüning: Ein Spitzel hatte sich bei uns eingeschlichen und an die Gestapo verraten. Mein Glück war, dass er mich nur einmal bei einem Treffen gesehen hatte. Damals rettete ich meine Haut, indem ich alles abgestritten habe. Ich hatte Einzelhaft und schrieb in der Abgeschiedenheit der Zelle den kleinen Roman Junges Herz muss wandern. Ich schrieb ihn unter den Augen der Gestapo, sie las mit. Die geschrieben Seiten musste ich bei der Gefängnisaufseherin abliefern, manchmal bekam ich sie erst nach Tagen zurück. Ich wurde schließlich vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen, musste aber nach meiner Freilassung 1937 mich noch dreimal wöchentlich bei der Gestapo melden. Das war natürlich kein Zuckerlecken, denn man wusste nicht, ob man jemals wieder lebend aus dem Gebäude herauskommt. Nun war ich zwar frei, aber ich hatte erst mal niemanden mehr. Meine Freunde waren emigriert oder verhaftet. Wissen Sie, ich war zwar davongekommen, aber beim Gedanken an meine Leute, die in den Fängen der Nazis geblieben waren, war gerade das eine schwere Bürde.

sueddeutsche.de: Wie ging es weiter?

Brüning: Ich heiratete einen Lektor, Joachim Barckhausen, obwohl ich damals eher für die freie Liebe war (lacht). Ich durfte später wieder schreiben, aber irgendwann hatte ich eine totale Blockade. Die Situation hat mich krank gemacht. Das legte sich zwar zwischenzeitlich. Aber später, nach Kriegsbeginn, als ich für einen Nazi-Verlag arbeiten sollte, ließ ich das Schreiben ganz.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie den Krieg überstanden?

Brüning: Die Familie meines Mannes verfügte unter anderem über ein Anwesen in Egeln in der Magdeburger Börde. Dort überstanden wir die letzte Phase des Krieges mit unserer inzwischen geborenen Tochter. Aber lange hat es mich da nicht gehalten: Mit dem ersten Laster, der nach dem Krieg aus Berlin kam und wieder zurück fuhr, bin ich dann mit.

sueddeutsche.de: Was wollten Sie in der total zerstörten Hauptstadt?

Brüning: Zuerst mal nach meinen Eltern sehen. Und außerdem hatte ich erfahren, dass das Kulturleben wieder in Schwung gekommen war. Einer meiner ersten Wege führte mich zum Kulturbund, den Johannes R. Becher gerade gegründet hatte. Becher selbst war da, auch Klaus Gysi, der spätere Kulturminister und Vater des heutigen Linksparteipolitikers Gregor Gysi. So kam ich zum Sonntag, dem heutigen Freitag. Für mich war das ein Wiedereinstieg, ich konnte Schreiben nach vielen Jahren der inneren Emigration. Aber es war natürlich nicht einfach: Über die Vergewaltigungen durch russische Soldaten sollten wir ebenso wenig berichten wie über Lebensmittelknappheit und Demontagen.

sueddeutsche.de: Inzwischen wird auch über solche Themen gesprochen.

Brüning: Das finde ich auch richtig, nur vermisse ich in der geschichtlichen Aufarbeitung manches.

sueddeutsche.de: Worauf spielen Sie an?

Brüning: Zum Beispiel auf den Widerstand gegen das Hitler-Regime. Heute hat man ja fast den Eindruck, als ob es Widerstand nur am 20. Juli 1944 gegeben hätte oder allenfalls von den Geschwistern Scholl. Aber was ist mit den vielen übrigen mutigen Menschen, die gegen die Nazis kämpften? Die unzähligen Kommunisten - natürlich auch Sozialdemokraten, manche Pfarrer und andere.

sueddeutsche.de: In der DDR war es Usus, ausschließlich den kommunistischen Widerstand zu würdigen.

Brüning: Aber so, wie es heute gehandhabt wird, ist es genauso einseitig - nur andersherum: An die couragierten Kommunisten, die zu den ersten Opfern der braunen Tyrannei gehört haben, erinnert heute fast niemand mehr. Dafür an hohe Wehrmachtsoffiziere, die den Putsch erst wagten, nachdem sie viele Jahre für Hitlers Bande Krieg geführt hatten. Diese einseitige Erinnerung ist sehr bitter.

sueddeutsche.de: Nehmen Sie eigentlich am aktuellen Zeitgeschehen teil?

Brüning: Ich versuche es, aber in meinem Alter ist es natürlich sehr mühsam, ich werde immer wackeliger. So einfach auf eine Veranstaltung kann ich nicht mehr gehen, leider. Manchmal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr in dieser Zeit zu leben.

sueddeutsche.de: Glauben Sie denn nach wie vor an das sozialistische Ideal, Frau Brüning?

Brüning: Ja! Ich halte es für zwingend notwendig, dass die Politik sozialer werden muss. Und eins ist sicher: So wie es ist, bleibt es nicht. Das ist die Erfahrung meines langen Lebens. Aber was dann kommt?

Mitarbeit: Susanne Klaiber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: