Einwanderung im internationalen Vergleich:"Es gibt eine 'German Angst' vor Migration"

Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Zirndorf

Flüchtlinge in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im Bayerischen Zirndorf

(Foto: dpa)

Die US-Soziologen Richard Alba und Nancy Foner haben die Einwanderungspolitik von sechs Ländern verglichen. Und versuchen zu klären, warum Deutschland vor allem die Nachteile von Migration fürchtet.

Interview von Alex Rühle

Die beiden amerikanischen Soziologen Richard Alba und Nancy Foner haben viele Jahre lang die Einwanderungspolitik in sechs verschiedenen Ländern der westlichen Welt verglichen. Nun haben sie ihre Ergebnisse in einer großen Studie veröffentlicht ("Strangers No More: Immigration and the Challenges of Integration in North America and Western Europe" Princeton University Press). Ein Gespräch über verschiedene Integrationsmodelle, Amerika und Europa und die Frage, was Sankt Martin mit alledem zu tun hat.

SZ: Sie vergleichen die Flüchtlings- und Migrationspolitik in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, Kanada und den USA. Warum diese sechs Länder?

Nancy Foner: Die USA mussten schon deshalb dabei sein, weil wir die Situation in unserem eigenen Land am eingehendsten untersucht haben. Amerika muss in einer derartigen Vergleichsstudie aber auch deshalb auftauchen, weil wir die meisten Einwanderer der Welt haben - mittlerweile mehr als 40 Millionen Menschen.

Einwanderung im internationalen Vergleich: Die Soziologin Nancy Foner hat die Einwanderungspolitik von sechs Ländern untersucht.

Die Soziologin Nancy Foner hat die Einwanderungspolitik von sechs Ländern untersucht.

(Foto: oh)

Und Kanada?

Richard Alba: Weil es oft als Erfolgsmodell zitiert wird. Außerdem ist Kanada, ähnlich wie die USA, eine Siedlergesellschaft, also eine Gesellschaft, die von Migranten gegründet und geformt wurde, anders als die Länder in Europa.

Was können die Europäer von den USA und Kanada lernen?

Alba: Dass Migration ohne geografische Beschränkung - das, was ihr Deutschen mit dem Wort Weltoffenheit bezeichnet - unbedingt zur gesellschaftlichen Vitalität gehört. In die USA kommen jedes Jahr eine Million Einwanderer. Und Kanada hat prozentual gesehen mehr Einwanderer als alle anderen Länder unserer Studie.

Einwanderung im internationalen Vergleich: Foners Kollege: Richard Alba.

Foners Kollege: Richard Alba.

(Foto: oh)

Zu den offiziell registrierten Migranten kommen noch all die sogenannten Illegalen, Menschen, die mit Touristenvisa oder gefälschten Dokumenten einreisen und dann untertauchen. Oder die im Land bleiben, obwohl ihr Asylgesuch abgelehnt wurde. Über wie viele Menschen reden wir da?

Foner: In den USA leben elf Millionen Illegale. Die meisten von ihnen sind Mexikaner, leben bereits über zehn Jahre im Land und haben keinerlei legalen Status. Wir sprechen hier also über ein Viertel aller Migranten. Die Illegalen haben es sehr schwer, einen Job zu ergattern, sie fürchten permanent ihre Abschiebung und haben kaum Zugriff auf sozialstaatliche Leistungen. In Kanada gibt es natürlich sehr viel weniger Illegale, zwischen 200 000 und 400 000. Kanada teilt keine Landesgrenze mit Mexiko. Die USA sind eine Art natürlicher Puffer, der alle illegalen Einwanderer absorbiert, die sonst nach Kanada gehen würden.

Kanada wird oft als Vorbild für den Umgang mit Migration beschrieben. Inwiefern unterscheidet es sich von den anderen Ländern, die Sie untersucht haben?

Alba: Kanada hat nur mit den USA eine Landesgrenze. Und es hat als einziges unserer sechs Studienländer eine streng selektive Einwanderungspolitik. Je besser die Ausbildung, je größer die Fähigkeiten, desto größer die Chance, genommen zu werden. Mehr als die Hälfte aller Einwanderer nach Kanada haben einen Universitätsabschluss. Diese Selektionspolitik hat auch dazu geführt, dass die Mehrzahl der Migranten aus Asien stammen.

"Bis vor Kurzem war das deutsche Einbürgerungsgesetz eine einzige Hürde"

In Deutschland wird Migration immer vor dem Hintergrund des demografischen Wandels diskutiert. Ist das in den anderen Ländern ähnlich?

Alba: Der gesamte wohlhabende Westen steht vor enormen demografischen Umbrüchen. Die Generation der Babyboomer wird alt. Dazu kommt die ethnische Vielfalt der jüngeren Generation, weil all diese Länder nun mal seit 50 Jahren Einwanderer aufnehmen. Aber in keinem anderen Land, das wir untersucht haben, wirkt sich diese Veränderung so stark aus wie in Deutschland, weil es hier besonders wenige junge Menschen gibt.

Gleichzeitig leidet Deutschland, wie einige andere europäische Länder, an einer Art Generalverdacht. Migration ist per se verdächtig. Es gibt eine German Angst bezüglich der längerfristigen ethnischen und kulturellen Folgen, vor allem was die außereuropäischen Migranten angeht. Europa braucht mehr Zutrauen, dass Migration auf lange Sicht Vorteile bringt. Dass die Neuankömmlinge und ihre Kinder sich über kurz oder lang in die Gesellschaft integrieren.

Sie greifen in Ihrem Buch die deutsche Einbürgerungspolitik an. Warum?

Alba: Bis vor Kurzem war das deutsche Einbürgerungsgesetz eine einzige Hürde. Wie sollen Migranten und ihre Kinder das Gefühl haben, Teil einer Gesellschaft zu sein, wenn sie nicht Bürger dieser Gesellschaft werden können? Es ist Migranten nahezu unmöglich, Beamte zu werden, was in Deutschland ja doch mit einem besonderen Status verbunden ist. Für viele, die nach 2000 geboren sind, hat sich das Problem erledigt durch das jus soli.

Das heißt: Wer auf deutschem Boden geboren wird, ist Deutscher.

Alba: Und dies in Verbindung mit dem Gesetz, dass man sich nicht mehr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden muss. Wir begrüßen das ausdrücklich. Aber dieses Gesetz lässt viele Leute, darunter auch viele, die in Deutschland geboren wurden, noch immer als Staatenlose zurück.

Wie handhaben denn Amerika und Kanada ihre Identitäts- und Einwanderungspolitik?

Alba: Beide Länder haben ihren Begriff von nationaler Identität schnell ausgeweitet. Migranten und deren Kinder können heute einfach und schnell US-Bürger werden. Das macht es für sie leicht, sich dann auch als Amerikaner oder Kanadier zu fühlen. Was für ein nervenaufreibender Prozess ist es im Gegensatz dazu, die deutsche Nationalität anzunehmen! Und was Sie immer noch für ein Gewese um Bindestrich-Identitäten machen!

Einwanderung im internationalen Vergleich: Die Soziologin Nancy Foner hat die Einwanderungspolitik von sechs Ländern untersucht.

Die Soziologin Nancy Foner hat die Einwanderungspolitik von sechs Ländern untersucht.

(Foto: oh)

Was meinen Sie damit?

Alba: Die doppelte Staatsbürgerschaft. In den USA ist es für Einwanderer selbstverständlich, sich als Chino-Amerikaner, US-Mexikaner, Ameriko-Nigerianer zu fühlen. Das wird geradezu erwartet.

Wie könnte sich Europa hier öffnen?

Foner: Die flexibleren Identitäten in den USA und in Kanada haben mit unserer Siedlergeschichte zu tun: Wir Amerikaner waren ursprünglich alle Einwanderer. Dazu kommen in den USA die Rolle der Bürgerrechtsbewegung und in Kanada der Kampf um die Unabhängigkeit Quebecs. Auch das sind länderspezifische Eigenheiten.

Alba: Die USA und Kanada zeigen, welchen großen Nutzen eine Politik hat, die ethnische Vielfalt für positiv hält, eine Politik, die auf eine Rhetorik verzichtet, durch die ethnische Minderheiten stigmatisiert werden. Genauso wie sie auf Kategorisierungen wie die des "Allochthonen" in den Niederlanden verzichtet, durch die die Kinder und sogar noch die Enkel von Einwanderern zu Ausländern gestempelt werden.

"Überdurchschnittlich viele Muslime in Europa sind arm, arbeitslos und schlecht ausgebildet"

In Ihrem Buch zeigen Sie, dass in den USA die Rassenfrage viel wichtiger ist als in Europa. Woran liegt das?

Foner: Das hängt mit unserer Sklaverei-Geschichte zusammen, und der anschließenden extremen Segregation, die bis tief ins 20. Jahrhundert andauerte. Schwarze Migranten erleben in Metropolenregionen wie New York bis heute extreme Ausgrenzung. Hochzeiten zwischen Weißen und Schwarzen sind sehr selten, die Kinder gemischter Paare gelten weiterhin als "schwarz".

Umgekehrt ist Ihrer Meinung nach in Europa die Religionszugehörigkeit ein größeres Thema als in den USA. Warum?

Foner: Wenn wir im Zusammenhang mit Migration über Religion reden, heißt das natürlich, dass wir über den Islam sprechen. Es gibt drei Gründe. Der eine hat mit simpler Demografie zu tun: In Amerika sind nur 25 Prozent der Einwanderer Muslime, in Europa 40 Prozent. Auch in der Gesamtbevölkerung gibt es bei uns weniger als ein Prozent Muslime, während es in Deutschland sechs Prozent sind. Außerdem sind überdurchschnittlich viele Muslime in Westeuropa arm, arbeitslos und schlecht ausgebildet. Die muslimische Einwanderung in die USA war viel selektiver, viele der US-Muslime gehören zur Mittelschicht und haben eine gute Ausbildung.

Aber in Amerika spielt Religion eine größere Rolle als im halbsäkularen Europa. Haben Muslime für amerikanische Christen nicht die "falsche" Religion?

Alba: Ich würde sagen, dass Religion hier generell viel akzeptierter ist als in Europa. Atheisten sind den meisten Amerikanern suspekter als Muslime. Im säkularen Europa bilden jene, die einem Glauben mit festen Ritualen anhängen, eine Minderheit.

Foner: Außerdem unterscheiden sich die Beziehungen zwischen Staat und Religion. In Amerika geben die Prinzipien der religiösen Freiheit und der Trennung von Kirche und Staat den Migrantenreligionen den Raum, um eigene Gemeinden zu gründen. Sie können Tempel und Kirchen nach ihren eigenen Vorstellungen bauen und dürfen sich gegenüber den dominanten Religionen gleichberechtigt fühlen. In Europa sind die christlichen Religionen tief im Staat verwurzelt - was es für den Islam schwer macht, gleichberechtigt behandelt zu werden.

Ist Frankreich mit seiner strikten Trennung von Kirche und Staat da nicht weiter als Deutschland?

Foner: Meinen Sie? Die meisten französischen Kirchen gehören dem Staat, und er hält sie instand. Der Staat ist es auch, der ihre Benutzung für regelmäßige Gottesdienste erlaubt. Die meisten Moscheen hingegen sind irgendwelche Behelfskonstruktionen in umgewidmeten Wohnhäusern, Garagen oder Kellern. Muslimische Schülerinnen dürfen den Schleier nicht in den Schulen tragen, und der Front National wehrt sich dagegen, dass es in der Schulspeisung Alternativen ohne Schweinefleisch geben soll, wohingegen viele Kantinen am Freitag unter Berufung auf die katholische Tradition Fisch anbieten.

Alba: Eine der prägendsten Erfahrungen für ihren Zweitklass-Status als Religionsgemeinschaft machen die Muslime in ganz Europa bei all den Festen und Veranstaltungen, die von christlichen Feiertagen herrühren wie Fasching oder Weihnachtsmärkte. Ich habe einige Jahre in Mannheim gelebt und erinnere mich noch gut daran, wie dort Sankt Martin gefeiert wurde. Mein Sohn bekam die Lieder in der Schule beigebracht. Sie haben in der Schule die Laterne gebastelt und sind als Klasse durch die Stadt gezogen. Für mich als Amerikaner war das ein ziemlicher Schock. Für Migranten aus muslimischen Ländern wie der Türkei, in denen ihre jeweiligen Feiertage ähnlich laut und öffentlich gefeiert werden, muss der Kontrast zu ihrer Situation in den westlichen Ländern bei solchen Gelegenheiten drastisch sein.

"Deutschland übertreibt mit seinen Sorgen über die Parallelgesellschaft"

Eine der größten deutschen Ängste lässt sich in dem Wort der Parallelgesellschaft zusammenfassen: Migrantengettos mit eigenen Werten, Codes und Clanstrukturen. Sie aber schreiben, dass Segregation in Europa ein viel kleineres Problem darstellt als in den USA. Warum?

Foner: Deutschland übertreibt mit seinen Sorgen über die Parallelgesellschaft. Ihnen fehlt das Vertrauen, dass Migration auf lange Sicht hin meist funktioniert. Der abgeschlossene Charakter einiger Migrantengesellschaften wie etwa der Türken in Deutschland rührt zumindest teilweise von dem Gefühl her, von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden.

Dabei hat sich gerade für die Türken in Deutschland die Situation doch eigentlich verbessert.

Foner: Über den Islam als Religion zweiter Klasse haben wir schon gesprochen. Ein ganz eigenes Thema wäre euer bizarres Schulsystem mit der extrem frühen Aufteilung der Kinder in drei Schultypen und der extremen Benachteiligung von Kindern aus Familien ohne kulturelles Kapital.

Dazu kommt die Schwierigkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, selbst für die Türken zweiter Generation, die Erfahrung, in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt unterlegen zu sein und die Grundeinstellungen vieler Deutscher, die aus Umfragen hervorgeht und sich in Büchern wie Sarrazins notorischem "Deutschland schafft sich ab" manifestiert.

Würden Sie hier von Segregation sprechen?

Alba: Ja, aber anders als bei uns, wo Ausgrenzung vor allem durch räumliche Ghettoisierung geschieht. Es gibt auffällig wenige türkisch-deutsche Ehen und überhaupt weniger sozialen Austausch, Netzwerke. Offensichtlich überschneiden sich die größeren Familien und Freundeskreise von Deutschen und Türken kaum.

Foner: Die wohnliche Trennung ist in Deutschland längst nicht so drastisch wie in Amerika, wo es riesige Wohngebiete gibt, in denen ausschließlich bettelarme Benachteiligte aus allen möglichen Minderheiten leben. In der südlichen Bronx leben eine Million Menschen, die allermeisten von ihnen Schwarze oder Latinos, und die meisten sind bettelarm. Schon aufgrund der schieren Größe solcher Viertel kommen viele ihrer Bewohner kaum in Kontakt mit Leuten aus anderen Schichten. Derartiges gibt es in Deutschland nicht. Wie die Türken über Deutschland verteilt sind, ist eine Art Nebenwirkung der Gastarbeiterzeit, als die Einwanderer je nach Nachfrage und Fabrikgröße über die ganze Republik verteilt wurden.

Gab es solche Parallelgesellschaften denn jemals wirklich?

Foner: Am nächsten kommen dem, was Sie im Angstbegriff Parallelgesellschaft zusammenfassen, die Schwarzenghettos in den amerikanischen Städten aus der Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung. Das waren richtige Ghettos, aus denen keiner entkam, Untergesellschaften mit eigenen Institutionen und Eliten. Eine solch statische Form der Segregation gibt es nicht mehr, weil alle, die Karriere machen, die Möglichkeit haben, in bessere Viertel umzuziehen. Indem sie gehen, geben sie den anderen einen Anreiz, das ebenfalls zu versuchen.

Was sind denn positive Tendenzen, die Sie gefunden haben?

Foner: Das Gesicht des Westens ändert sich. Auch Vorstände, Politiker, Sportstars werden bald unterschiedliche Biografien, Religionen und Hautfarben haben. Das heißt aber, dass es in all den Minoritäten viele Erfolgsgeschichten gibt. In allen Ländern gibt es mehr Ehen zwischen Migranten und Alteingesessenen. Wenn man das sieht, kann man hoffen, dass Rasse und Religion, die so unüberwindliche Barrieren zu sein scheinen, mit der Zeit verblassen.

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