Ein Jahr nach Entdeckung der NSU:Geschichte eines entsetzlichen Staatsversagens

Bis zum 4. November 2011 hätte sich das niemand vorstellen können: Rechtsterroristen ziehen jahrelang mordend und raubend durch Deutschland, ohne behelligt zu werden. Ein ineffektives V-Mann-System, Behörden-Wirrwarr und Fahndungspannen haben die Aufdeckung der Taten behindert. Ein Überblick über das Versagen von Politik, Polizei und Geheimdiensten.

Hans Leyendecker und Tanjev Schultz

Themenpaket NSU

Eine mit der Mordwaffe baugleiche Pistole vor den Porträts von Opfern der NSU-Morde: Die Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle waren beispiellos - ebenso wie die Ermittlungsfehler.

(Foto: dpa)

Das Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße 26 steht nicht mehr. Der letzte Unterschlupf der Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) wurde komplett abgerissen. Wo zuvor die Ruine des von Beate Zschäpe am 4. November 2011 angezündeten Gebäudes stand, ist heute ein Park. Der Ort sollte nicht zur Wallfahrtsstätte für Neonazis werden. Das Haus konnte man abreißen. Was jedoch bleibt - auch ein Jahr nach Auffliegen des NSU -, ist noch immer die Frage, wie es geschehen konnte, dass Terroristen fast 14 Jahre unerkannt rauben und morden konnten. Ein Überblick über ein unfassbares Staatsversagen.

Verpatzte Razzia

Am 26. Januar 1998 findet eine Razzia in Jena statt. Der Verfassungsschutz hat die Polizei informiert, dass das Trio offenbar in einer Garage etwas Gefährliches bastele. Es gibt Durchsuchungsbeschlüsse für drei Garagen, aber diese werden nicht zeitgleich durchsucht. In der ersten Garage findet man nichts. Daraufhin kann sich der NSU-Mitgründer Uwe Böhnhardt, der bei der Razzia dabei ist, in sein Auto setzen und einfach wegfahren. Auch Uwe Mundlos und Beate Zschäpe tauchen unter.

Kurz darauf werden in einer Garage 1,4 Kilogramm Sprengstoff gefunden. Dennoch beantragt die Staatsanwaltschaft Gera auch am nächsten Tag noch keine Haftbefehle. Dieses Verhalten ist symptomatisch. Die Strafverfolger waren lasch und wurden nie "ihrer Leitungsverantwortung" gerecht, wie der Untersuchungsbericht einer Kommission unter Federführung des früheren Bundesrichters Gerhard Schäfer feststellt.

Polizei versagt bei der Fahndung

Das Versagen der Behörden ist keineswegs, wie es zuletzt den Anschein gehabt haben mag, nur oder in erster Linie ein Versagen des Verfassungsschutzes. Polizei und Staatsanwaltschaft haben ebenfalls keine rühmliche Rolle gespielt. Sie waren verantwortlich für die Fahndung nach dem Trio. Dabei passierten Fehler in Serie. Abhör- und Suchmaßnahmen liefen unkoordiniert, die Akten beim Landeskriminalamt in Erfurt wurden "chaotisch geführt", heißt es im Schäfer-Bericht. Den eingeschalteten Zielfahndern fehlt es an Kenntnis über die rechte Szene; sie arbeiteten "engagiert, aber nicht stringent". Die "großen zeitlichen Abstände zwischen den Fahndungsmaßnahmen" seien "unverständlich", rügt Schäfer.

Ineffektives V-Mann-System

Fünf V-Leute gab es im Umfeld des abgetauchten Trios. Einige von ihnen lieferten durchaus wertvolle Hinweise auf den Verbleib der Gesuchten und auch auf deren Gefährlichkeit. Ein Rechtsextremist, der Kurierfahrten für das Trio erledigte, war V-Mann eines Nachrichtendienstes, und er wies seinen V-Mann-Führer früh darauf hin, die drei bewegten sich "auf Ebene des Rechtsterrorismus mit dem Ziel, eine Veränderung des Staats herbeizuführen". Folgen für die Fahnder? Keine.

Dass das Trio auf der Suche nach Waffen war, Überfälle plante, damals im Raum Chemnitz lebte und - zumindest über Mittelsmänner - Kontakt zu Böhnhardts Eltern hielt: Es gibt mehr als ein Dutzend solche Hinweise in den Akten. Sie blieben ohne die notwendigen Konsequenzen. Im Oktober 1999, ein Jahr vor dem ersten Mord des NSU, überfielen Mundlos und Böhnhardt zwei Banken in Chemnitz und entkamen unerkannt. Ein Informant wies einen Monat später seinen V-Mann-Führer darauf hin, er habe erfahren, dass die drei, die vorher klamm waren, jetzt "kein Geld mehr brauchten, weil sie jobben würden". Wie jobbt man am besten mit einer Waffe?

Das Landeskriminalamt wurde vom Erfurter Verfassungsschutz auch über diesen Hinweis nicht informiert. Insgesamt 15 Geldhäuser überfielen die beiden NSU-Mörder bis November 2011. Der zuständige Auswerter beim Verfassungsschutz wertete die meisten der Quellenhinweise nicht aus, einige bekam er nicht mal auf den Schreibtisch.

Richtige Intuition, falscher Verdacht

Am 9. September 2000 ermorden Mundlos und Böhnhardt in Nürnberg den türkischen Blumenhändler Enver Simsek. Zeugen berichten von zwei Männern in der Nähe des Tatorts, die mit Fahrrädern gekommen seien. "Bitte mir genau berichten, ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?", notiert Bayerns damaliger Innenminister Günther Beckstein (CSU), der aus Nürnberg stammt, auf einem Zeitungsausschnitt. Er hat die richtige Intuition. Aber es folgt nichts daraus. Bald darauf werden wieder Migranten ermordet. Sie werden immer mit derselben Waffe, einer Ceska, hingerichtet. Erneut ist von Männern mit Fahrrädern die Rede. Eine Sonderkommission, die erst "Soko Halbmond", dann "Bosporus" heißt, lässt prüfen, ob die Opfer, "wie bei vielen Türken bekannt, in Gaststätten und Kulturvereinen gespielt und sich hierbei verschuldet haben".

"Wenn ein Türke oder ein Jude ermordet wird, dann ist es natürlich meine allererste Vermutung: Fremdenfeindlichkeit", hat Beckstein als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags gesagt. Die erste Vermutung der Beamten, die mit viel Einsatz die Morde aufklären wollten, war anders: Im weiten Reich der organisierten Kriminalität suchten sie nach den Tätern, im Milieu der Drogenhändler und Schutzgelderpresser. Die Ermittler kamen früh auf diesen Gedanken, der falsch war - und sie kamen nie mehr davon los.

Unterschätzter Rechtsextremismus

Halbherzige Ermittlungen in Richtung Rechtsterrorismus

Zwar haben die Beamten auch darüber diskutiert, ob nicht Rassisten hinter den insgesamt neun Morden an Migranten stecken könnten. Aber die Ermittlungen in diese Richtung wurden nicht einmal halbherzig betrieben. Trotz der vielen Opfer in der langen Geschichte des deutschen Rechtsterrorismus haben sowohl Verfassungsschützer als auch die Staatsschützer und Ermittler der Polizei die Gefahr eines neuen rechten Terrors völlig unterschätzt.

Vertreter der Behörden berufen sich bis heute darauf, es habe ja keine Bekennerschreiben und auch sonst keine Spuren an den Tatorten gegeben, die in die rechte Szene hätten führen können. Doch dieses Argument trägt nicht besonders weit. Den Behörden war bekannt (und sie haben darüber sogar Studien verfasst), dass Neonazis ihre Anschläge oft verüben, ohne sich dazu zu bekennen. Und dass es in der braunen Szene eine intensive Diskussion über militante Aktionen aus dem Untergrund gab, darüber war man in den Ämtern eigentlich ziemlich gut im Bilde. Man hätte es "besser wissen können", sagte nach dem Ende des NSU der damalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, der dann später wegen der Aktenschredder-Affäre zurücktrat.

Auch Politiker haben dazu beigetragen, die Spuren nach rechts zu ignorieren. So erklärte der damalige SPD-Bundesinnenminister Otto Schily 2004 einen Tag nach einem Nagelbomben-Anschlag auf eine von Kurden und Türken bewohnte Straße in Köln: Ersten Ermittlungen zufolge gebe es "keinen terroristischen Hintergrund". Schily gab die erste Einschätzung der Beamten zwar korrekt wieder, verstärkte gleichzeitig durch die Autorität seines Ministeramtes aber diese falsche Analyse. Die von Schily und dem damaligen NRW-Innenminister Fritz Behrens abgegebene Erklärung sei ein "schwerwiegender Irrtum" gewesen, sagt Schily heute. Es gab übrigens sogar Fotos, wie Mundlos und Böhnhardt mit Fahrrädern auch in Köln am Tatort unterwegs waren. Sie sind auf den Bildern allerdings nicht gut zu erkennen.

Eingrenzung auf lokale Täter

Zeitweise folgte die Polizei zwar der - in Ermittlerkreisen stets sehr umstrittenen - Hypothese, rassistische Täter könnten die Morde verübt haben. Doch bei ihrer Suche nach möglichen Neonazi-Tätern beschränkte sie sich auf Nachforschungen zur rechten Szene in Nürnberg (wo drei der neun Migranten-Morde verübt worden waren). Eine Ausweitung der Ermittlungen auf bundesweit gesuchte Neonazis unterblieb. In Köln suchte die Polizei nach dem Bombenanschlag ebenfalls nach Tätern aus der Region - als könnten Verbrecher nicht auch mobil sein.

Wirrwarr der Behörden

Von Anfang an standen sich im Falle des NSU verschiedene Behörden gegenseitig im Wege. Vor und nach dem Untertauchen des Trios trauten sich die Verfassungsschützer und die Beamten des Landeskriminalamts in Thüringen nicht über den Weg. Aber auch zwischen den Nachrichtendiensten war der Informationsfluss zäh, wenn da überhaupt etwas floss. Später, bei den Mordermittlungen, entstand ein unübersichtliches Geflecht an unterschiedlichen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, von denen keine zu einer systematischen Gesamtschau in der Lage war.

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