Ein Jahr nach der Bundestagswahl:Noch eine Chance für die Liberalen

Christian Lindner

Erklärungsversuche: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner spricht auf einer Pressekonferenz zum Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen.

(Foto: dpa)

Es gibt in Deutschland zwar die Sehnsucht nach liberaler Politik, aber keine Partei mehr, die sie stillt. Anstatt die Chance zu ergreifen, löst die FDP sich auf.

Kommentar von Heribert Prantl

Vor einem Jahr flog die FDP aus dem Bundestag - und sie fliegt seitdem immer weiter; zuletzt flog sie aus drei Landtagen. Sie fliegt unter der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit, sie fliegt aus dem Kurzzeitgedächtnis der Politik; sie wird als politische Kraft kaum mehr registriert. Christian Lindner, Parteivorsitzender seit Dezember 2013, ist es bisher nicht gelungen, daran etwas zu ändern. Wenn seine Partei noch ein wenig von sich reden macht, dann mit Nachrichten, die den Eindruck von der Auflösung einer früher stolzen und noch früher auch klugen Partei verstärken; diese Nachricht zum Beispiel: Die FDP-Chefin in Hamburg ist zurück- und ausgetreten. Da und dort versuchen sich einstige liberale Leistungsträger in der Gründung neuer politischer Gruppierungen.

Das neue liberale Denken ist nicht zu spüren

An der Basis der Partei herrscht eine Stimmung wie in der Villa des letzten weströmischen Kaisers Romulus im Jahr 476: Dieser, so die Komödie von Friedrich Dürrenmatt, lebt auf seinem Landsitz, züchtet Hühner, trinkt Spargelwein und sehnt den Einmarsch der Germanen unter ihrem Heerführer Odoaker herbei - während die letzten Getreuen Romulus anflehen, doch dem Einmarsch bitte Einhalt zu gebieten. Im Haus der FDP keimen bisweilen solche Hoffnungen; Hoffnungen, dass ein Teil derjenigen, die der neuen Partei AfD zuströmen, sich alsbald schrecken vor der altbackenen Konservativität dort - sich sodann anderweit umsehen und dabei die FDP wiederentdecken. Aber es gibt wenig Neues zu entdecken bei der FDP: Das neue liberale Denken, das die Alten in der Partei - respektable Leute wie Gerhart Baum und Burkhard Hirsch - beschwören, ist nicht zu spüren.

Fast jeder hält sich heute für liberal

Es gibt in Deutschland eine Sehnsucht nach liberalen Positionen in der Politik, wohl auch nach einer wirklich liberalen Partei; aber es gibt keine Partei mehr, die diese Sehnsucht befriedigt. Fast ein jeder hält sich heute für mehr oder weniger liberal. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hält sich für irgendwie liberal, wenn er die NSA-Abhörpraktiken relativiert, weil doch die Aktivitäten von Google und Co. noch viel schlimmer seien. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält es für liberal, wenn er um den Preis der weiteren Verschärfung des Asylrechts ein paar Erleichterungen für Flüchtlinge erreicht. Das Wort Liberalität hat seine Konturen verloren, seitdem die FDP ihre Konturen verloren hat - aber das ist schon gut dreißig Jahre her, das war die Zeit, als sich die FDP noch als den politischen Hüter des Rechtsstaats begriffen hat, als sie sich mit Stolz Rechtsstaatspartei nannte. Diese Zeit ging zu Ende, als die FDP 1995 dem großen Lauschangriff zustimmte und ihr Heil dann in einem billigen Neoliberalismus suchte.

Man sehnt sich nach der Renaissance einer liberal-rechtsstaatlichen Politik

Wenn Datensammelwahnsinn grassiert, wenn also das Abhören von Handys, das Anzapfen von Computern, das Horten und Verwerten von privatesten Daten durch Geheimdienste und Internetkonzerne zum Alltag wird; wenn die Grundrechte auf dem Weg der Gesellschaft in die Internetwelt nur noch bettelnd am Wegesrand stehen; wenn vom Stolz auf die Bürgerrechte im politischen Alltag nichts mehr zu spüren ist; wenn das Asylrecht, das einst ein Leuchtturm war, zum Teelicht verkümmert; wenn auf die zugewanderten Neubürger in Deutschland wieder mit dem Finger gezeigt wird und von ihnen als "den anderen" geredet wird; und wenn das Wort "Verantwortung" jetzt dazu dienen soll, deutsche Waffen und deutsche Soldaten am Grundgesetz vorbei in alle Welt zu schicken - dann, ja dann wünscht man sich die Renaissance einer liberal-rechtsstaatlichen Politik.

Gibt es in der FDP keine Liberalen mehr?

Die Piraten, die eine solche Politik formulieren wollten, sind schon wieder im Niedergang. Die Grünen, die sich einst als grüne FDP sahen und eine ökologisch-rechtsstaatliche Politik entwickeln wollten, sind programmatisch schwach. Den Linken nimmt man die Verteidigung der Grundfreiheiten nicht so recht ab. Bei der CDU/CSU war die Liberalität noch nie zu Hause; aber den Wählern gilt die diffuse Art Angela Merkels, Politik zu machen, partiell als Liberalitätsersatz. Die SPD stellt in der Regierung zwar den Justizminister, der traditionell die Rechtsstaats-Liberalität hoch hält; aber dessen Gesetze atmen diesen Geist nicht. Und die vielbeäugte AfD, die in ihren Anfängen eine stark wirtschaftsliberale Partei war, entwickelte sich zu einer dezidiert antiliberalen Partei.

Das klingt nach einer Situation, wie sie der Urliberale Karl-Hermann Flach, damals FDP-Generalsekretär, im Jahr 1971 beschrieben hat: "Noch eine Chance für die Liberalen." Aber entweder gibt es in der FDP keine Liberalen mehr. Oder die sehen diese Chance nicht. Oder sie haben die Kraft nicht, sie zu ergreifen.

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