Ehren-Morde in der Türkei:Wie Gewalt ein Leben zerschneiden kann

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Noch immer werden Frauen in der Türkei vergewaltigt und geschwängert - und dann von ihrer Familie auch noch zur Strafe gesteinigt - jetzt regt sich im Land Widerstand gegen barbarische Sitten.

Von Christiane Schlötzer

Nachdem Semsiye Allak tot war, wollte ihre Familie ihren Körper nicht anfassen, als trage der Leichnam einen durch bloße Berührung übertragbaren Makel, der von keinem Leichenwäscher abzuwaschen ist. Und dies, obwohl die Steine, die man auf Semsiye Allak geworfen hatte, doch gleichsam einer Reinigung dienen sollten.

Eine Steinigung. Ein blutiges Ritual, nicht aus finsterer Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart. Die 35-jährige Semsiye Allak aus dem Ort Yalimköy bei Mardin nahe der türkisch-syrischen Grenze ist gestorben, weil ihre Familie meinte, die Frau habe die Ehre ihrer Verwandten verletzt, nachdem sie unverheiratet schwanger geworden war.

Von einem Mann, der sie vergewaltigte, nachdem er schon zehn Kinder gezeugt hatte. Dafür wurde Semsiye Allak, die nie eine Schule besucht hat und um deren Hand nie ein Mann angehalten hat, bestraft. Von ihrer Familie. Die warf die Steine, auch noch, als die Frau schon nicht mehr vom Boden aufstehen konnte.

Wo die Angst wohnt

Fremde Frauen haben die Gesteinigte zu Grabe getragen, 100 Kilometer von ihrem Dorf entfernt, in der türkisch-kurdischen Metropole Diyarbakir. Die Totengräberinnen von Semsiye Allak hätten ihr lieber beim Überleben geholfen. Es waren Psychologinnen, Ärztinnen und freiwillige Helferinnen einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, so viele Frauen wie möglich vor dem Grauen so genannter Ehrenmorde zu retten.

Kadin Merkezi, zu Deutsch Frauenzentrum, abgekürzt Ka-mer, heißt die Organisation. Ihre Zufluchtstätte in Diyarbakir ist ein großes vierstöckiges Gebäude. Es ist ein Haus für Frauen in Todesangst.

Das Zentrum hat ein Notruf-Telefon, schon seit fünf Jahren. In dieser Zeit gab es 1500 Anrufe. "Melden sich Frauen in Gefahr, suchen wir Menschen, die Einfluss auf die Familie haben, das kann ein Imam oder ein Bürgermeister sein", sagt Nebahat Akkoc, die Ka-mer mitgegründet hat.

Akkoc, eine große selbstbewusste Frau mit kurz geschnittenen Haaren, weiß, wie Gewalt ein Leben zerschneiden kann. Ihr Mann wurde Mitte der 90er Jahre auf offener Straße ermordet. Damals war Krieg im Südosten der Türkei, Krieg zwischen kurdischen Guerilleros und staatlichen Sicherheitskräften, und es gab viele nie aufgeklärte Morde.

Der Krieg ist vorbei, aber das hat nicht alles verändert, nicht die patriarchalischen Verhältnisse beispielsweise. "Wir haben als Frauen alle Erfahrung mit Gewalt", sagt Akkoc. Sie will in diesem Jahr im kurdischen Südosten gleich mehrere neue Zufluchtshäuser für Frauen eröffnen.

In Batman, Bingöl und Kiziltepe gibt es sie schon. In Urfa und Hakkari wird es bald soweit sein. Auch in Mardin, wo Semsiye Allak lebte.

Sie hat den Weg zu den Helferinnen nicht mehr geschafft. Nachdem Allak schwer verletzt in die Universitätsklinik von Diyarbakir gebracht worden war, lag sie acht Monate im Koma, bevor sie starb. Ihr Grab auf dem Friedhof von Diyarbakir befindet sich in der Sektion der anonymen Toten.

Die Wut ist kreativ

Die Lehmerde ist dort so schwer, dass sie in dicken braunen Brocken an den Schuhen klebt und sie schwer macht wie Stein. Auch die Gräber sind nur braune Erdhügel. Allein eine lange Längsreihe kleiner weißer Kiesel auf dem Rücken eines Hügels lässt erkennen, wo ein Mensch liegt. Grabstätten ohne Namen, wie bei Selbstmörderinnen üblich, oder bei den unbekannten Toten des kurdischen Krieges. Die liegen gleich neben den ermordeten Frauen.

Der Friedhofswärter aber weiß trotz alledem, wo Semsiye Allak begraben ist. Er muss es wissen, denn zeigt er das Grab, gibt es Trinkgeld, und es kommen immer wieder Frauen, die dort Blumen niederlegen wollen. Denn das Schicksal von Semsiye Allak, obwohl es nur eines von vielen ist, hat etwas verändert. Es hat die Wut auf die Frauen-Morde wachsen lassen. Die Wut ist kreativ.

Ein Theaterstück in Diyarbakir wurde über die gesteinigte Frau geschrieben. Das städtische Theater hat es aufgeführt. Viele Menschen haben das Stück inzwischen gesehen, und in diesem Jahr wollen es die Autoren durch die ganze Republik auf Tour schicken.

Am liebsten möchten sie es auch im Ausland spielen, weil es in sehr traditionellen türkischen oder arabischen Familien auch in Schweden oder Deutschland die mörderische Meinung gibt, dass "namus", die Ehre der Frauen, etwas sei, das mit Blut gereinigt werden müsse, und dass "seref", die Würde der Männer, mit der Gewalt zu tun haben könnte, die sie über das Leben der Frauen gewinnen.

"Für das, was die Familie Allak getan hat, ist auch die Gesellschaft verantwortlich. Die muss sich schämen", sagt der Theaterautor Mehmet Sait Alpaslan. Alpaslan, ein Mann in Jeans und mit Dreitagebart, hat die Geschichte der etwa gleichaltrigen Semsiye Allak nicht mehr losgelassen.

"Kurden lassen ihre Toten sonst nie liegen. Selbst wenn 1000 Leute auf der Flucht sterben, werden sie von Angehörigen mitgenommen und begraben", sagt Alpaslan. Nicht vergessen kann er auch das einzige Foto, das es von der Lebenden gibt. "Sie lag im Krankenhaus mit 100 Schläuchen am Körper, eine Frau, die wohl nie zuvor bei einem Arzt war."

"Kleiner Schmerz" nannte Alpaslan sein Stück. Er schrieb es in Kurdisch, weil das die Sprache seines Publikums ist. Die meisten Ehrenmorde gibt es im kurdischen Südosten der Türkei. Dass Alpaslan die lange geächtete Sprache auf die Bühne bringen kann, ist eine Folge der EU-Reformen, zu denen sich das Land entschlossen hat.

Der Autor ist selbst ein Überlebender, was das Künstlerische betrifft. In der Zeit des Sprachverbots übersetzte er, als eine Art Ausdauertraining, die Bibel wie die Tora ins Kurdische. Mit Stolz überreicht er die dicken Bände. Das Stück über Semsiye Allak ist ein knappes, aber bewegendes Werk.

Es sind Brüder, Onkel, Väter, die töten

"Ich bin das Mädchen, das in Mardin gelyncht wird, in Batman Selbstmord begeht, in Afghanistan unter der Burka zu Tode gepeitscht und in Iran erhängt wird", sagt die Bühnen-Semsiye. Das Publikum spendet langen Applaus, in den sich die gellenden, kehligen Freudenschreie kurdischer Frauen mischen. "Das ist eine Lektion, damit die Familien ihre Töchter besser verstehen", sagt eine junge Zuschauerin, am Arm ihres Bruders, der sie ins Theater geführt hat.

Häufig sind es die Brüder, die Onkel, wenn nicht die Väter, die ihre Töchter töten. Und die Mütter stimmen im Familienrat nicht selten zu. Türkische Medien erzählen die traurigen Geschichten immer öfter im Ton echter Empörung. Und sie zeigen die Bilder von Frauen, die eine Frau zu Grab legen, etwa die aus Mardin stammende 15jährige Kadriye Demirel, die von ihrem 19jährigen Bruder mit Steinwürfen und einem Hackmesser getötet wurde, weil sie schwanger war.

Es sind unerhörte Beerdigungs-Bilder. Frauen, die einen Sarg tragen, schon das ist ein Tabubruch. Dem schlichten Holzsarg der Kadriye Demirel folgten im November 2003 mehrere Tausend Frauen zu dem Friedhof in Diyarbakir. Diese weiblichen Trauerzüge sind Demonstrationen. Die Frauen hinter den Särgen sagen, wir lassen uns das nicht mehr bieten.

Schule als Schutz

Bisweilen töten sich die Frauen auch selbst, oder es sieht so aus, als hätten sie das getan, wie bei einer 24-Jährigen in Batman, in deren Leichnam die Polizei schließlich eine Kalaschnikowkugel fand. Die Frau hatte nicht geschossen.

Aytekin Sir, Psychiater an der Dicle-Universität in Diyarbakir, hat 134 Selbstmorde und Selbstmordversuche, die 1997 in der 550.000 Einwohner-Stadt aktenkundig wurden, untersucht. Er fand, dass die Selbstmordrate der Frauen doppelt so hoch war wie die der Männer. "Im Rest des Landes ist es wie im Rest der Welt, umgekehrt", sagt der Arzt in seinem handtuchschmalen Büro in der Universitätsklinik.

Sir ist noch mehr aufgefallen. Üblicherweise töten sich eher ältere Männer. In Diyarbakir sind es überwiegend Frauen zwischen 15 und 24 Jahren, die Pestizide schlucken, vom Dach springen oder den Strick nehmen. "Das ist hier für Frauen das gefährlichste Alter", sagt der Arzt.

Am gefährlichsten scheint das Leben für Mädchen, die zu Hause leben und in keine Schule gehen. "Die meisten Toten waren Analphabetinnen, Frauen, die total abhängig von ihren Familien sind." Deshalb ist Sir überzeugt, dass viele Selbstmorde mit dem Streit um Ehre und Tradition zu tun haben, und dass es in Wirklichkeit häufig Morde sind.

"Ich bestehe darauf", sagt Sir und wird ganz ernst, "die Mädchen müssen zur Schule gehen. Das ist der wichtigste Schutz." Er glaubt, dass auch Semsiye Allak noch leben würde, wäre sie weniger hilflos und abhängig gewesen. "Dann hätte ihre Familie das nicht gewagt."

Der Staat müsse auf dem Land Mädcheninternate bauen und die Schulpflicht überall durchsetzen, fordert der Professor. Dass die Zahl der tödlichen Familienkonflikte in den letzen Jahren eher stieg, erklärt Sir mit den Ereignissen der 90er Jahre. Viele Familien mussten während des kurdischen Krieges ihre Dörfer verlassen. Die Entwurzelten halten sich erst recht an den Traditionen fest. Sir vermisst staatliche Unterstützung für seine Forschung. "Aber ich hoffe", sagt er, "dass nun eine neue Sensibilität entsteht, auch bei Gerichten."

Mörder hinter Gittern

Die Mörder von Semsiye Allak wurden verurteilt. Fünf von acht Beschuldigten wanderten hinter Gitter. Kurz vor Allaks Tod wurde von der Regierung in Ankara auch eine Reform des Strafgesetzbuchs auf den Weg gebracht. "Ehren-Mörder" sollen nicht mehr mit reduzierten Strafen rechnen dürfen.

Aber türkische Frauen-Organisationen sind mit dem Entwurf nicht zufrieden, denn der Vorschlag enthält noch zweifelhafte Formulierungen. So spricht ein Artikel von "ungerechtfertigter Provokation", was auch immer das heißen mag, die Täter von einem Teil ihrer Schuld exkulpieren kann. Und Vergewaltiger, die ihr Opfer heiraten, sollen von Strafe verschont werden können. Justizminister Cemil Cicek versprach im Dezember immerhin, er werde die Kritik prüfen. Aber, so Cicek, Gesetze allein würden tiefverwurzelte Haltungen nicht ändern.

Das wissen auch die Frauen von Ka-mer. "Wir wollen die Frauen stärken, aber wir müssen auch die Männer erreichen. Eine patriarchale Gesellschaft hat auch Auswirkungen auf die Männer", sagt Nebahat Akkoc, die Chefin des Zentrums. Jüngst hat Ka-mer Frauen, die nicht lesen und schreiben können, animiert, ihre Gefühle zu malen. "Ich konnte mir vorstellen, dass ich an diesem Tag sterbe, aber nicht, dass ich malen würde", schwärmte eine Kurdin über die neue Ausdrucksfreiheit.

"Sei frei!"

Die Bilder sind ausgestellt, in einer Galerie in Diyarbakir. Auf einer Zeichnung ist ein Mädchen ganz in Rosa zu sehen, mit Engelsflügeln. Nur die Schuhe sind schwarz. Daran hängt eine schwarze Kugel, wie sie mittelalterliche Gefangene im Verließ trugen. "Sei frei" steht darüber. Auf einem anderen Bild verfolgt ein Strichmännchen-Vater seine Tochter. Die steigt eine Leiter hoch, die in den Himmel führt. "Papa, Du bist alles für mich", lautet die Inschrift.

Weil es die Verwandten sind, die töten, die Väter, denen die größte Ehrfurcht und häufig die größte Liebe der Töchter gilt, "sind die Opfer so einsam", hat ein Reporter der Zeitung Radikal zum Fall Allak notiert. Im Prozess gegen die Mörder sah sich der Journalist selbst von Angehörigen der Täter bedroht.

Über das Grab von Semsiye Allak donnern in Diyarbakir die Kampfjets. Der Friedhof liegt neben dem größten Militärflughafen der Region. Die Jets fliegen so tief, als könnten sie in jeder Sekunde den Boden berühren und sich wie eine gewaltige Hand auf die Gräber legen. Nicht einmal als Tote haben die gesteinigten Frauen Ruhe.

© SZ vom 19.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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