Ehemalige Häftlinge:Lebenslang ohne Stimme

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Kalifornien ist einer der Staaten, in denen wählen darf, wer ohne Bewährung aus der Haft entlassen ist: Gürtel eines Justizbeamten von San Quentin. (Foto: Ben Margot/AP)

Gefängnisinsassen verlieren die Bürgerrechte und erhalten sie oft auch Jahre nach ihrer Entlassung nur schwer wieder. Das kann Wahlen entscheiden.

Von Lena Kampf, Tallahassee

Es ist so etwas wie die Parade der Büßer, die im Kellergeschoss des Kapitols von Floridas Hauptstadt Tallahassee Platz nimmt. Die Männer haben gebügelte T-Shirts in ihre Jeans gesteckt, die Frauen stecken in etwas zu engen, etwas zu grellen Etuikleidern. Sie haben sich herausgeputzt, aber sie tragen ihre feinen Kleider nicht mit Stolz. Man lässt hier besser reumütig den Kopf hängen.

Einmal im Quartal tagt der Begnadigungsausschuss Floridas, bestehend aus Governor Rick Scott und drei Ministern. Sie sitzen erhöht am Ende des Raumes, davor ein hölzernes Stehpult für die Bittsteller. "Das hier ist ein Akt der Gnade, kein Recht, das Sie einfordern können", stellt Scott zu Beginn klar. 78 Menschen werden an dem Tag um Milde bitten. Sie werden flehen, argumentieren, sie werden befragt zu Bußgeldbescheiden, zum Arbeitgeber. Zehn werden begnadigt, 28 erhalten ihre Bürgerrechte zurück. Sind sie schnell genug, und haben sich angemeldet, können sie noch ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Für viele wird es das erste Mal sein.

Wenn am 8. November ein neuer Präsident oder eine Präsidentin gewählt wird, dürfen mehr als sechs Millionen Amerikaner nicht abstimmen. Wer einmal im Gefängnis saß, hat in vielen Bundesstaaten sein Wahlrecht verwirkt. Mehr als ein Viertel der Ausgeschlossenen entfallen auf Florida: Auf etwa 1,5 Millionen werden sie geschätzt, zehn Prozent der Wahlberechtigten. Der Ausschluss trifft besonders ethnische Minderheiten; unter Ex-Häftlingen sind überproportional viele Schwarze, mehr als jeder fünfte Schwarze darf in Florida nicht wählen. In dem wichtigen Swing State kann dies wahlentscheidend sein. Eine Verurteilung heißt hier lebenslang, was das aktive und passive Wahlrecht betrifft. Will ein Ex-Häftling die Bürgerrechte zurück, hat Florida die strengsten Regeln. Eine Petition beim Begnadigungsausschuss ist die einzige zweite Chance.

Vor der Saaltür im Keller sitzen müde Menschen, die Anhörung wird auf einem Fernseher übertragen. Vor ihm hüpft David Money von einem Bein aufs andere. Er kann nicht still stehen, seinen Nadelstreifenanzug trägt er wie ein Teenager bei der Konfirmation. Im Bildschirm spricht gerade ein Mann mit Nummer zehn. "Glauben Sie mir, ich bin ein besserer Mensch geworden", hört man ihn sagen.

Besserer Mensch Nummer 46 wird David Money sein. Auch er wird vor dem Ausschuss sprechen, den Antrag hat er vor acht Jahren gestellt. Money ist 48 und war vor zwanzig Jahren einige Monate im Gefängnis. Er hat Marihuana angebaut und verkauft, für ein paar Hundert Dollar im Monat. Kleiner Kundenkreis, einer hat ihn verpfiffen. Als Money im Juni 1996 entlassen wurde, fühlte er sich betrogen. Vom Staat. Aber vor allem vom Leben.

Eine Scheißkindheit habe er gehabt, sagt er, zwei Alkoholiker als Eltern, aber heute habe er keine Schulden und ein Haus. Money hat einen Abschluss in Sozialarbeit und eine Hochsicherheitsüberprüfung, weil er mit Behinderten in Haft arbeitet. "Ich bin Vorzeigekind der Reintegration", sagt er. "Es könnte mir ja egal sein, ob ich wählen darf. Aber es fühlt sich so nicht richtig an." Er zahle Steuern, sei nie rückfällig geworden. Über Politik könne er bloß reden - Einfluss nehmen aber nicht.

Nur in Maine und Vermont können Häftlinge wie in Deutschland wählen. Alle anderen Bundesstaaten entziehen mit der Bewegungsfreiheit auch die Bürgerrechte. In zwölf Bundesstaaten bleiben auch Ex-Häftlinge Bürger zweiter Klasse: Das stammt aus der Ära nach dem Bürgerkrieg, vor allem die Südstaaten suchten Wege, Schwarze von der Wahl auszuschließen.

Al Gore hätte die Wahl gegen George W. Bush mit den Stimmen der Ex-Häftlinge gewonnen

Mit der seit den Siebzigerjahren steigenden Häftlingszahl hat sich in den USA die Zahl der auf Dauer vom Wahlrecht Ausgeschlossenen verfünffacht. Der demokratische Gouverneur von Virginia versuchte im April 200 000 Ex-Häftlingen per Dekret das Recht zurückzugeben. Doch der Supreme Court Virginias erklärte das für nichtig. Floridas Gouverneur Rick Scott tat mit einer seiner ersten Amtshandlungen im Frühjahr 2011 das Gegenteil: Er führte eine Karenzzeit von fünf bis sieben Jahren nach der Haftentlassung ein, erst dann dürfen Ex-Häftlinge einen Antrag stellen. Sein Vorgänger gab in vier Jahren 150 000 Ex-Häftlingen die Bürgerrechte zurück, mit Scott sank die Zahl im ersten Jahr seiner Amtszeit auf 78. Momentan warten 21 491 Ex-Häftlinge auf Bearbeitung ihrer Anträge.

Mit dieser Politik lassen sich Wahlen gewinnen: Eine Studie der Universität von Minnesota wies 2002 nach, dass die Wahl zwischen Al Gore und George W. Bush in Florida anders ausgegangen wäre, hätte nur ein kleiner Teil der Ausgeschlossenen abstimmen dürfen. In Florida war die Wahl mit 537 Stimmen für Bush entschieden worden. Weil die Ausgeschlossenen mehrheitlich Demokraten wählen, zeigen Republikaner kein Interesse an einer großzügigeren Auslegung. In den letzten beiden Präsidentschaftsrennen gewann Barack Obama in Florida knapp - es ist wohl kein Zufall, dass Gouverneur Scott versucht, die Zahl potenzieller Demokraten-Wähler mit strengeren Regeln zu reduzieren. Es könnte am 8. November rechnerisch an denen hängen, die nicht wählen dürfen: Unter Schwarzen hat Donald J. Trump auch in Florida fast keine Wähler. Mit Hillary Clintons schrumpfendem Vorsprung könnten ihre fehlenden Stimmen entscheiden.

Im Zeugenstand trommelt David Money mit den Händen auf dem Pult herum. "Es ist nicht schön, dass mein Leben so verlaufen ist, aber jetzt kann ich viele mit meiner Geschichte erreichen", sagt er. Ein Ex-Kollege und seine Chefin stehen neben ihm. Sie sagen: "Andere lernen von seinen Erfolgen", und: "Ich habe ihn wachsen und sich entwickeln sehen." Dann geht es schnell. "Ich gewähre Ihnen die Bürgerrechte", sagt Rick Scott.

© SZ vom 07.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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