Dublin-Verfahren:Kalte Logik, warme Worte

Lesezeit: 2 min

Grenzsperren in Mazedonien im Frühjahr 2016. (Foto: Bulent Kilic/AFP)

Die Staaten, in denen Flüchtlinge eintreffen, bleiben für Asylverfahren verantwortlich. So sehen das Europas Richter. Aber sie lassen auch anderes zu.

Von Wolfgang Janisch

Dublin, das war im Herbst 2015 eine Chiffre im politischen Meinungskampf. Man müsse sich eben an "Dublin" halten, dann werde man des großen Zustroms von Flüchtlingen schon Herr werden, so verlautete aus dem nicht kleinen Lager der Merkel-Kritiker. Gemeint war damit: Die von der Bundeskanzlerin vorgenommene Öffnung der Grenzen werde sich dadurch zurückdrehen oder wenigstens eindämmen lassen, dass man wieder zurückgehe auf Los. Also auf die Dublin-Verordnung, die aus Sicht der europäischen Binnenländer eine komfortable, man könnte auch sagen egoistische Lösung bietet: Zuständig für die Bewältigung des Flüchtlingsproblems sind vornehmlich die Staaten an den EU-Außengrenzen.

Nun hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden: "Dublin" gilt auch in Notzeiten. Der starre Mechanismus, wonach Asylverfahren grundsätzlich dort abzuhalten sind, wo der Flüchtling erstmals seinen Fuß auf EU-Boden gesetzt hat, gilt auch unter dem Druck außergewöhnlicher Wanderungsbewegungen. Konkret ging es in Luxemburg um die Klagen syrischer und afghanischer Flüchtlinge, die an der Grenze zu Kroatien in den Bus gesetzt und nach Slowenien beziehungsweise Österreich gebracht worden waren, wo sie internationalen Schutz beantragten. Die beiden Staaten wollten die Menschen nach Kroatien zurückschicken, weil - siehe Dublin - die dortigen Behörden für das Asylverfahren zuständig seien. Die Flüchtlinge indes pochten darauf, dass sie von Kroatien durchgeschleust worden seien, womit ausnahmsweise auch die Zuständigkeit fürs Asylverfahren nach Österreich und Slowenien durchgereicht worden sei.

Noch beim Schlussantrag der Generalanwältin Eleanor Sharpston Anfang Juni schien es so, als könnten sich die Flüchtlinge durchsetzen. Das Ausmaß der Flüchtlingskrise rechtfertigt einen flexiblen, fantasievollen Umgang mit dem ansonsten so rigiden Asylsystem, so lässt sich die Position der EU-Juristin zusammenfassen. Das Durchwinken der Flüchtlinge etwa auf der Balkanroute sollte rechtliche Konsequenzen haben - der Flüchtlingsschutz sollte nicht irgendwo in den Korridoren der Massenwanderung hängen bleiben.

Der Gerichtshof ist ihrem Antrag nicht gefolgt. Die Last bleibt auf den Schultern der Grenzstaaten; sie können nicht mit den Flüchtlingen gleich noch ihre eigene Asylzuständigkeit durchwinken. Denn die EU-Rand-Staaten haben die Verantwortung für die Sicherung der Außengrenzen - und damit für die Flüchtlinge, welche die Grenzen überwinden, so lautet die kühle Logik der Dublin-Verordnung.

Ist das europäische Flüchtlingsreglement damit rigide, herzlos, ohne Sinn für Notlagen? So sehr das Urteil auf die strikte Geltung des längst umstrittenen Systems beharrt: Immerhin verweist es auf einige Auswege. Erstens ist da die politische Ebene: Die europäischen Institutionen können in Flüchtlings-Notlagen "vorläufige Maßnahmen" ergreifen. Solche Beschlüsse sind durchaus verbindlich für die Mitgliedstaaten - wenigstens hat dies ebenfalls an diesem Mittwoch der Generalanwalt hinsichtlich der Klagen der Slowakei und Ungarns gegen die Flüchtlingsquoten so vertreten (siehe nebenstehenden Bericht).

Zweitens erschöpft sich der Schutz fliehender Menschen eben nicht darin, dass die Staaten das Asylsystem vornehmlich als Flüchtlings-Abwehrrecht einsetzen. Der EuGH weist darauf hin, dass der "Geist der Solidarität" auch der Dublin-Verordnung zugrunde liegt. Daraus lassen sich zwar nicht wirklich handfeste Ansprüche gewinnen. Aber wenn Staaten von dieser Solidarität Gebrauch machen, dann steht das nicht im Widerspruch zum europäischen Asylrecht, sondern entspricht seinem "Geist". Dieser Geist ist sogar ausdrücklich in den Regeln niedergelegt. Danach können Staaten die Flüchtlinge zwar in das Land der ersten Einreise abschieben, sie müssen es aber nicht. Jeder Staat hat ein "Selbsteintrittsrecht", kann also Verfahren freiwillig übernehmen. Deutschland hat davon im Herbst 2015 zugunsten syrischer Flüchtlinge Gebrauch gemacht.

Der EuGH hat damit also den Merkel-Kritikern von damals keineswegs nachträglich ein Argument an die Hand gegeben. Gewiss, das Asylsystem ist rigide und formalistisch. Aber es bietet Raum für Ausnahmen, die dem "Geist der Solidarität" folgen.

© SZ vom 27.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: