Anis Amri:Wie die Diktatur in Tunesien den Terrorismus nährte

Anis Amri: Zorn der Jugend: Straßenblockade in Medenine, Tunesien, im Januar dieses Jahres.

Zorn der Jugend: Straßenblockade in Medenine, Tunesien, im Januar dieses Jahres.

(Foto: Fathi Nasri/AFP)

Das Regime wollte einen "Staat ohne Islamisten", heute kommen Tausende Kämpfer aus dem kleinen Land - auch der mutmaßliche Berliner Attentäter. Die Zahl perspektivloser junger Männer steigt.

Von Moritz Baumstieger

Auch neueste Überwachungstechnik made in Germany konnte Tunesien nicht helfen. Im Februar meldete die Regierung in Tunis noch stolz, 250 Kilometer seiner Grenze zum Bürgerkriegsstaat Libyen mit einem Sandwall gesichert zu haben - vor allem aber mit einem von deutschen Ingenieuren erdachten Frühwarnsystem, das Bewegungen in einem Radius von Kilometern aufzeichnet. Keinen Monat später zeigte sich, dass dies nicht reicht, um Dschihadisten fernzuhalten: Mehr als 100 IS-Kämpfer überrannten die Grenzstadt Ben Gardane und versuchten, einen Außenposten des sogenannten Islamischen Staates in Tunesien zu errichten.

Als die Anti-Terror-Einheiten von Polizei und Armee in dem Städtchen ankamen, mehr als 50 Kämpfer töteten und durchsuchten, war klar: Die meisten waren keine IS-Männer aus Libyen, es waren Tunesier, die im Nachbarland ausgebildet worden waren. Radikalisiert hatten sie sich aber zu Hause - um wirklich effektiv gegen die dschihadistische Gefahr vorzugehen, bräuchte Tunesien also nicht nur ein Frühwarnsystem an der Grenze, sondern auch eines, das Radikalisierungstendenzen im Inland aufzeigt.

Der Maghreb-Staat, in dem vor fünf Jahren der Arabische Frühling seinen Anfang nahm, hat ein ernsthaftes Terrorismusproblem: Tunesien ist mit elf Millionen Einwohnern eine eher kleine arabische Nation, unter den Kämpfern des IS und der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front stellen Tunesier aber die größte ausländische Gruppe. Amerikanische Experten sprechen von bis zu 7000 Tunesiern, die in den Krieg nach Syrien zogen, die eigene Regierung von immerhin 3000.

Auch der Attentäter in Nizza stammte aus Tunesien

Auch bei Terrorattacken in Europa sind immer wieder Tunesier die Täter: Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter von Berlin, stammte genauso von dort wie der Amokfahrer von Nizza, den sich Amri wohl zum Vorbild genommen hatte. Ob sich Amri bereits in der Heimat radikalisierte oder erst nach seiner Ausreise 2011, ist bisher nicht bekannt.

Zunächst mag das verwundern: Die tunesische Gesellschaft gilt im Vergleich zu denen anderer arabischer Länder als relativ säkular, als gebildet, als fortschrittlich. In den meisten Moscheen wird eine gemäßigte Form des Islam gepredigt und selbst die Ennadha-Partei, die einst aus der weltweit agierenden Bewegung der Muslimbrüder hervorging, gilt als vergleichsweise moderat - manche beschreiben die Partei als "eine Art islamische CDU".

Gleichzeitig nahm die Frequenz der islamistischen Anschläge in den vergangenen Jahren auch in Tunesien dramatisch zu. Nachdem das Land lange praktisch keine religiös motivierte Gewalt gekannt hatte, kam 2002 mit dem Attentat auf die Synagoge der Touristeninsel Dscherba der islamistische Terror nach Tunesien. 2006 und 2007 lieferte sich die Armee mehrmals Gefechte mit Milizen im Grenzgebiet zu Algerien, außer Kontrolle geriet die Lage schließlich nach dem zeitweisen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung während der Revolution 2011.

Terrorismus sorgt dafür, dass die Touristen ausbleiben

Zunächst ermordeten Dschihadisten im Jahr 2013 kurz nacheinander zwei hochrangige säkulare Politiker, zwei Jahre später sorgten die Attacken auf das Bardo-Museum in Tunis und das Attentat auf Touristen am Strand von Sousse dafür, dass eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes vollends zusammenbrach, der Tourismus. Für die nach der Revolution ohnehin schon schwache Wirtschaft war das katastrophal, eine noch größere Zahl arbeits- und perspektivloser junger Männer wird das Islamismusproblem zudem eher verschärfen.

Neben den wirtschaftlichen Schwierigkeiten trugen zwei weitere Faktoren dazu bei, dass Tunesien eine derart herausragende Rolle in der Internationalen der Islamisten spielt: zum einen die Politik der harten Hand des langjährigen Diktators Ben Ali vor der Revolution, zum anderen der sehr laxe Umgang mit den Extremisten danach. Ben Ali duldete keine islamistischen Strömungen, selbst apolitische Strenggläubige, die ihre Aufgabe eher in der karitativen Arbeit sahen, wurden verfolgt.

"Staat ohne Islamisten" nannte das Regime Tunesien daher stolz - gerade diese totale Repression war nach Ansicht der Tunesien-Expertin Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik jedoch für die Radikalisierung vieler mitverantwortlich. "Damit zwang der Staat selbst moderate Islamisten in den Untergrund", schreibt Werenfels in einer Studie zum Dschihadismus im Maghreb. Und weil es in Tunesien keine einheimischen Autoritäten für Strenggläubige gab, "orientierten sich identitätssuchende islamistische Tunesier mit Hilfe von Internet und Satellitensendern an oftmals militanten Predigern und Organisationen aus den Golfstaaten".

Die Extremisten sollen Geld aus dem Ausland bekommen

Nach der Revolution kam die radikale Wende: Der Staat ließ nach einer Generalamnestie 2011 alle politischen Gefangenen frei, tunesische Islamisten kehrten aus dem Ausland zurück, in das sie vor staatlicher Verfolgung in der Heimat geflohen waren. Unter dem Namen Ansar al-Sharia bildete sich eine große salafistische Organisation, die zunächst offen operierte und sich sozial engagierte. Ihr Führer Abu Iyad al-Tunisi, der zuvor eine Bilderbuchkarriere im internationalen Dschihad gemacht hatte, lehnte den bewaffneten Kampf in Tunesien selbst zunächst ab, befürwortete jedoch Gewalt in anderen Ländern. Bei Treffen der Gruppe etwa 2012 in der Stadt Kairouan, in deren Nähe die Familie des Tatverdächtigen von Berlin heute lebt, kamen bis zu 15 000 Anhänger zusammen.

Die Politik ließ die Islamisten zunächst gewähren - manche beschuldigten die damals regierende religiöse Ennadha-Partei, der Bewegung nahezustehen, andere vermuten eher, dass sie islamistische Wähler zumindest nicht verprellen wollte. 2013 jedoch reagierte die Politik und verbot neben anderen islamistischen Gruppen auch Ansar al-Sharia, die seither im Untergrund weiterarbeitet und Zellen im ganzen Land unterhält. Mehr als 100 Organisationen aus dem Ausland sollen für die Finanzierung der Gruppe sorgen, darunter religiöse Stiftungen aus Saudi-Arabien oder Kuwait. 2015 schließlich erließ der Staat härteste Terrorgesetze.

Währenddessen werden die Sicherheitsprobleme in den Nachbarstaaten Tunesiens immer größer: In der Wüste Südalgeriens unterhält al-Qaida mehrere Lager, in Libyen ist nach fünf Jahren Bürgerkrieg nichts mehr übrig von der staatlichen Ordnung, dafür ist das Land mit Waffen überschwemmt. Viele tunesische Islamisten bekamen hier die militärische Ausrüstung und Ausbildung, die ihnen nach der ideologischen Indoktrination noch fehlte.

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