Drei Jahre nach der Revolution:Tunesien sucht seine Identität

Drei Jahre nach der Revolution: Tunesier protestieren am 8. Januar in Kasserine gegen Steuererhöhungen und für bessere Lebensbedingungen drei Jahre nach der Revolution.

Tunesier protestieren am 8. Januar in Kasserine gegen Steuererhöhungen und für bessere Lebensbedingungen drei Jahre nach der Revolution.

(Foto: AFP)

Drei Jahre nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali erscheint in den kommenden Tagen eine neue Verfassung. Das Land sucht eine neue Identität. Vier Tunesier sprechen über ihre Erwartungen, ihre Wünsche an die Politik und ihre Sorgen über die Zukunft.

Von Isabel Stettin

Tunesien ist die Wiege des Arabischen Frühlings und gilt heute als einziges Land mit realistischen Aussichten auf eine demokratische Erneuerung. "2014 wird das Jahr der Krönung der Revolution, der Krönung des Wegs zur Demokratie. 2014 wird das Jahr der Verfassung sein", verkündete Präsident Moncef Marzouki in seiner Neujahrsansprache. Die Stimmung unter den Tunesiern schwankt zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Inflation, hohe Steuern und Arbeitslosigkeit bereiten der Bevölkerung Sorgen - mehr noch als die politische Lage.

Vier junge Tunesier sprechen über Wünsche und Erwartungen an ihr Land.

Tarek Cheniti, 34 Jahre, Blogger und Menschenrechtler aus Tunis:

"Alle Parteien scheinen nun einzusehen, dass wir nach vorne schauen, die Verfassung zu Ende bringen und neue, freie Wahlen organisieren müssen. Die verfassungsgebende Versammlung hat nach langem Warten einen Konsens gefunden. Sie stimmt noch immer über die einzelnen Artikel ab. Doch die bisherigen Ergebnisse halte ich für fortschrittlich. Die Verfassung ist auf Menschenrechte fokussiert und auf die Gleichstellung von Mann und Frau.

Mich stimmt es optimistisch, dass sich viele Bürger - besonders auch junge Menschen - engagieren. Der nächste große Schritt muss sein, dass junge Leute auch auf der höchsten Ebene vertreten sind. Viele Politiker sind um die 80 Jahre alt. Das ist sehr kritisch in einem so jungen Land wie Tunesien. Darum haben wir eine Bewegung gestartet. Zum Beispiel habe ich meinen Lebenslauf bei Facebook hochgeladen und mich für das Amt des Premierministers beworben, um zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen.

Tarek Cheniti Tunesien Blogger Menschenrechtler

Tarek Cheniti, Blogger und Menschenrechtsexperte

"I announce, with God's blessing, my nomination for prime minister and I call on all citizens of my age category to submit their nominations. Enough of the silence and negativity!"

Viele junge Leute sind meinem Beispiel gefolgt und haben sich über soziale Netzwerke für führende politische Ämter beworben.

Demokratischer Wandel auf richtigem Weg

Im Moment ist Tunesien das einzige Land der arabischen Revolution, das sich einer Demokratie nähert. Der politische Stillstand der vergangenen Monate ist durchbrochen. Darum sind die meisten Tunesier zuversichtlich.

Ich komme viel im Land herum, auch in den ärmeren Regionen fernab der Städte. Die Menschen dort sind sehr motiviert. Darum bin ich manchmal fast ein wenig enttäuscht, wenn ich zurück nach Tunis komme. Die Bürger hier sind derzeit wenig einfallsreich, wohingegen sich die in den benachteiligten Regionen aufgrund ihrer Armut stark für politische Reformen einsetzen. Sie sprechen mit Staatsbeamten, mit einflussreichen Personen und nehmen sie in die Verantwortung. Sehr bemerkenswert finde ich, dass Frauen noch aktiver sind als Männer. Gerade in den konservativen Regionen führen sie Proteste oder leiten Nichtregierungsorganisationen.

Die Demonstranten kämpfen für ihre Rechte, gehen auf die Straße. Gewalt gegen sie ist viel seltener geworden. Das Beste, was die Regierung nun tun kann, ist, den Bürgern zuzuhören."

Najma Kousri, 22 Jahre, Jurastudentin aus Tunis:

"Die vergangenen drei Jahre waren für uns alle hart. Ein demokratischer Übergang dauert Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Wir brauchen viel Geduld um zu erreichen, wofür wir vor drei Jahren auf die Straße gegangen sind: Demokratie und Freiheit. Ich bin die Jüngste einer politisch sehr engagierten Familie und kämpfe für die Rechte von Frauen. Für uns und die Zukunft des Landes ist die neue Verfassung sehr wichtig. Wenn ich an die ersten Proteste zurückdenke, waren wir anfangs nur eine Handvoll, die sich für eine verfassungsgebende Versammlung einsetzten. Die neue Verfassung ist zwar längst nicht perfekt, doch derzeit die beste, die sich angesichts der großen Anzahl konservativer Volksvertreter erreichen ließ.

Najma Kousri Tunesien Jurastudentin

Najma Kousri, Jurastudentin

(Foto: Privat)

Meinungsfreiheit ist wichtigste Errungenschaft

Ich kann nur für mich sprechen, wenn ich sage, dass die bislang gravierendste Änderung und einzige richtige Verbesserung nach der Revolution die Meinungsfreiheit ist. Medien und die Bevölkerung können jetzt ohne Angst ihre Einstellung zur Politik zeigen. Dennoch ist die Stimmung geprägt von Unterdrückung. Es trifft besonders junge Leute wie Jabeuer Mejri, der nach islamkritischen Äußerungen auf Facebook 2012 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde.

Doch solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung. Nach meiner Ansicht ist das Land mit vielen kompetenten, kreativen jungen Tunesiern gesegnet. Dennoch werden die nächsten Jahre schwer und fordern uns alle heraus. Es gibt Tage, an denen ich verzweifeln könnte und alles nutzlos finde. Trotzdem: Jeder von uns muss sein Bestes geben und weiterkämpfen - für eine bessere Zukunft."

Probleme der Bevölkerung kommen zu kurz

Mohamed Seifeddine Fnayou, 24 Jahre, Wirtschaftsingenieur aus Tunis:

Mohamed Seifeddine Fnayou Wirtschaftsingenieur Tunesien

Mohamed Seifeddine Fnayou, Wirtschaftsingenieur

"Die Erinnerung an die letzten ein, zwei Jahre macht mich stolz. Denn tatsächlich sind einige Dinge heute besser. Doch geht es uns wirtschaftlich besser? Nein! Es wird eher schlimmer. Geht es uns finanziell besser? Nein! Es wird immer schlimmer. Wenn wir über Meinungsfreiheit reden - ja!

Aber in Sachen Sicherheit gibt es Hochs und Tiefs. Die Polizei macht ihre Arbeit soweit gut, die Situation auf den Straßen ist vergleichbar mit der Zeit vor der Revolution. Über die Instabilität im Land bin ich aber noch immer sehr besorgt. Immer wieder hört man von Problemen mit Islamisten, von neuen Streiks, bewaffneten Konflikten. Aktuell höre ich viel über terroristische Aktivitäten im Süden Tunesiens. Doch die Nachrichten sind oft unklar, die Infos nicht eindeutig. Das macht mir Angst.

Scheindebatten statt Lösungen für die Wirtschaftskrise

Die politische Situation ist meiner Meinung nach besser als in den vergangen Jahren, aber trotzdem nicht gut. Wenn es um die Effizienz der jetzigen Politik geht, um die Effizienz der Verfassung und der einzelnen Artikel - die Politiker diskutieren die immer selben Scheinprobleme. Die nationale verfassungsgebende Versammlung krankt an den unterschiedlichen Sichtweisen der politischen Kräfte. Die Opposition kommt obendrein zu wenig zum Zuge, finde ich.

Die Opposition und die rechten Parteien haben viel debattiert, was für ein Land Tunesien werden und welche Rolle dabei die Religion spielen soll. Säkulare und Islamisten haben diskutiert, wo das Land steht. Doch für die Gesellschaft ist das derzeit nicht von so großer Bedeutung. Ich glaube, diese Streitigkeiten waren überflüssig. In Tunesien hat die Bevölkerung ihre eigene Denk- und Lebensweise entwickelt, welche weder islamistisch noch säkular ist.

Arbeitslosigkeit belastet junge Tunesier

Wirklich zufrieden bin ich mit der Arbeit der Politiker nicht. Denn man kann sich nie sicher sein, wem man trauen kann und was wahr ist, bei all den Nachrichten und Gerüchten. Für mich wäre es ein Vollzeit-Job, wenn ich versuchen würde, die Politik hier zu verstehen. Wie viele andere habe ich das Gefühl, dass die gesellschaftlichen Vertreter nicht über die grundsätzlichen Probleme sprechen: Arbeitslosigkeit, Sicherheit, Bildung, Gehälter oder Gesundheit.

Einige Investoren haben Tunesien verlassen und sind in wirtschaftlich stabilere Länder abgezogen. Weil nun mehr Sicherheit besteht, kommen einige zurück nach Tunesien. Doch die Arbeitslosenrate sinkt nicht. Ich hoffe, es gibt bald mehr Jobs, doch sicher bin ich mir da nicht. Persönlich bin ich relativ zufrieden mit meiner Situation und möchte nicht zu viel verlangen. Aber ich kenne viele Lehrer, Akademiker, Tunesier mit Diplom, die arbeitslos sind. Und es sieht nicht danach aus, als gäbe es bald genügend Stellen."

Drei Jahre nach der Revolution: Tunesier feiern den Jahrestag der Revolution. Drei Jahre sind seit dem Sturz von Diktator Zine El Abidine Ben Ali am 14. Januar vergangen.

Tunesier feiern den Jahrestag der Revolution. Drei Jahre sind seit dem Sturz von Diktator Zine El Abidine Ben Ali am 14. Januar vergangen.

(Foto: AFP)

Wafa Boussaid, 25 Jahre, Vertriebsingenieurin aus Kelibia:

"Für mich ist der 14. Januar 2011 der Tag, an dem das Chaos begann. Abgesehen von der Meinungsfreiheit hat sich bislang durch die Revolution im Grunde nichts getan. Die Stimmung schwankt zwischen Gleichgültigkeit, Trauer, Enttäuschung und Hoffnung. Die meisten meiner Bekannten sind entmutigt. Das ist vor allem der Inkompetenz und Sturheit gewisser Politiker geschuldet, die sich ihr Scheitern nicht eingestehen wollen.

In der Verfassung sehe ich kaum entscheidende Neuerungen. Während der langen Zeit des Wartens und der Diskussion fürchteten wir, dass rückschrittliche Gesetze durchgesetzt würden. Nach meiner Ansicht ist die neue Verfassung eine Verschwendung von Zeit, Geld und Energie. Ich finde, die bestehende von 1959 war gerecht genug. Wir hätten sie nutzen und einige Dinge erneuern können, statt alles neu zu schreiben und dafür drei Jahre zu verschwenden - geprägt von Terrorismus, von der Wirtschaftskrise und Regierungslosigkeit. Gesetze und die Verfassung zählen in einem Land wie Tunesien ohnehin nicht viel. Die Regierung und diejenigen mit bedeutenden Posten können die Artikel im Sinn ihrer Interessen auslegen und interpretieren.

Besseres Land für kommende Generationen

Ignoranz, Fundamentalismus und Sexismus prägen mein Land. Es ist zwar toll, dass die Gleichstellung von Mann und Frau nach wie vor in der Verfassung festgehalten ist. Doch viel entscheidender wäre, dass sich die Einstellung in den Köpfen der Menschen ändert. Wenn die Regierungspolitik das nicht fördert, bedeuten die Artikel nicht mehr als die Tinte auf dem Papier.

Die einzige Hoffnung für die kommenden Generationen ist eine Regierung mit Vertretern, die ihr Land lieben und modernisieren wollen und die Werte unserer Nation und Republik durchsetzen. Ich sehe großes Potential in der tunesischen Bevölkerung und hoffe weiterhin, dass morgen, "inschallah" - so Gott will -, ein besserer Tag kommt, wenn wir unser Land lieben und zusammenarbeiten, um Tunesien zu einem besseren Ort für unsere Kinder zu machen."

Auf der nächsten Seite folgt ein Überblick über den bisherigen Stand der Verfassung.

Die neue Verfassung im Überblick

Seit dem 3. Januar stimmt die Nationalversammlung über 146 Artikel ab. Geplant war es, die neue Verfassung pünktlich zum heutigen Jahrestag zu verabschieden. Doch noch rund 40 Artikel stehen aus.

"Die Verfassung insgesamt ist bislang positiv", sagt Anna Antonakis-Nashif, Stipendiantin an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Forschungsschwerpunkt Tunesien/Arabischer Frühling.

  • Artikel 1 besagt: "Tunesien ist ein freier Staat, unabhängig und souverän, der Islam ist seine Religion, Arabisch seine Sprache und die Republik seine Regierungsform." Damit bekennt sich Tunesien zum Islam als Glaubensrichtung, lehnt ihn aber als Rechtsquelle ab. Anders als von vielen Islamisten gefordert, soll die Scharia keine Grundlage für staatliches Handeln sein.
  • Artikel 6 gilt als großer Erfolg des Dialogs mit der Zivilgesellschaft: Er garantiert freie Religionsausübung und die Freiheit des Glaubens. Moscheen und Institutionen dürfen z.B. nicht instrumentalisiert werden. Nichtgläubige und Säkulare können sich auf die garantierte Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit berufen. "Wenn die Artikel in die Praxis umgesetzt werden, kann dieser Punkt einige interessante Debatten zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen auslösen", hofft Tarek Cheniti.
  • Artikel 20 besagt, dass alle Bürger und Bürgerinnen die gleichen Rechte und Pflichten haben. Sie sind gleich vor dem Gesetz, ohne dass sie in irgendeiner Weise diskriminiert werden dürfen.
  • Folter ist in Artikel 22 als "unverjährbares Verbrechen" festgehalten.
  • In Artikel 30 ist die Meinungs- und Pressefreiheit festgehalten.
  • Artikel 35 sieht das Recht auf Streiks und Gewerkschaften vor.
  • In Artikel 39 ist das Recht auf Arbeit und gerechten Lohn formuliert.
  • Artikel 45 garantiert ausdrücklich Frauenrechte und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Frauen haben schon seit 1956 viele Rechte in Tunesien. Doch viele fürchteten, dass unter der gemäßigt islamistischen Partei Ennahda die neue Verfassung in diesem Punkt einen Rückschritt bringen könnte.

Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, aber auch die Zivilgesellschaft haben es geschafft, Akzente zu setzen und blieben während des Verfassungsprozesses wachsam, lobt Antonakis-Nashif. Doch bei allen positiven Ansätzen gibt es auch Kritikpunkte. Menschenrechtsorganisationen fürchten eine zu konservative Auslegung durch die Hintertür. Die Verwirklichung in der Praxis lasse bei einigen Artikeln viel Spielraum für Interpretationen.

"Begrüßenswert ist die Präsenz vieler Abgeordneter der unterschiedlichen Lager, die über Facebook oder Twitter Einblicke in die Entwicklung gaben und zeigten, dass sie die Belange der Bürger ernstnehmen", beobachtet Antonakis-Nashif. "Doch dem politischen Prozess folgen derzeit bei weitem nicht alle. Die verfassungsgebende Versammlung hat viele Bürger auf ihrem Weg verloren, da sie wesentliche Forderungen bezüglich Arbeit und Lohn übergangen hat. Verschleppungen von Entscheidungen gingen auf Kosten entscheidender Forderungen der Revolution", sagt Antonakis-Nashif.

Stärkere Signale für ganz Tunesien und das Zentrum des Landes seien erforderlich gewesen, um die breite Bevölkerung zu überzeugen. "Meine Hoffnung ist, dass sich möglichst viele Tunesier mit ihrer neuen Verfassung identifizieren können und dahinter stehen. Zudem hoffe ich, dass die Justiz unabhängig und im Sinn der Bürger die Artikel der Verfassung umsetzt."

Linktipps: Impressionen zum dritten Jahrestag der Revolution. Die Deutsche Welle bewertet die aktuelle Situation in Tunesien. Ein Artikel des Deutschlandradios zeigt: Drei Jahre nach der Revolution ist das Land gespalten. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur spricht die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin über die neue Verfassung. Die Washington Post hebt Tunesiens Vorreiterrolle im arabischen Raum hervor.

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