Dokumente über Al-Qaida-Chef:Bin Laden, der eitle Terrorist

Mehr als hundert Datenträger wurden bei der Aktion gegen Osama bin Laden sichergestellt. Das Material beweise, dass er aktiver Al-Qaida-Führer war, behaupten US-Geheimdienste. Es zeigt aber auch: Er war ein Mann von 54 Jahren, der jünger aussehen wollte - und sich den Bart färbte.

Reymer Klüver

Der Mann kauert auf einem beigen Teppich, trägt eine schwarze Wollmütze und ist in eine Decke gehüllt. Offenkundig ist es kalt in dem spärlich beleuchteten Zimmer. Wiederholt streicht er sich über seinen erkennbar grauen Bart, gestikuliert mit der Fernbedienung in der rechten Hand, während auf einem kleinen TV-Gerät vor ihm Bilder von Barack Obama vorüberhuschen, vor allem aber Aufnahmen von ihm selbst: Al-Qaida-Chef Osama bin Laden betrachtet sich selbst im Fernsehen. Und als er mit einer Kalaschnikow zu sehen ist, ruft er dem Mann, der ihn gerade filmt, eine kurze Bemerkung zu. Der Terrorfürst ist offenkundig zufrieden mit sich selbst.

US RELEASES SEIZED OSAMA BIN LADEN VIDEOS

Alles muss sitzen: der Bart, die Kleidung, der Hintergrund, die Gesten - Osama bin Laden in den Videos, die die Amerikaner in seinem Haus fanden.

(Foto: AFP)

Das ist die merkwürdigste Szene auf den fünf Videos, die die US-Regierung am Wochenende freigegeben hat - Bruchstücke des Materials, das die Kommandosoldaten bei der Erstürmung des Anwesens in Abbottabad in der Nacht zum Montag vorgefunden hatten. Mehr als hundert Datenträger haben sie sichergestellt, Disketten, Festplatten, Videos, dazu handschriftliche Notizen und andere Papiere. Eine Arbeitsgruppe, der Experten von mindestens acht US-Geheimdiensten und dem FBI angehören, sichtet das Material seither rund um die Uhr.

Alle fünf Videos wurden ohne Ton vorgelegt. Man wolle nicht die anti-amerikanische Propaganda des toten Terrorführers weiterverbreiten, hieß es dazu. Auf den anderen Videos ist Bin Laden zu sehen, wie er für eine Video-Botschaft an seine Anhänger übt. Schließlich ist auch eine solche Botschaft in Gänze zu sehen (aber eben ohne Ton); sie war allerdings von al-Qaida nicht veröffentlicht worden. Sie enthält nach US-Angaben Tiraden gegen Amerika und den Kapitalismus. In diesem Video ist sein Bart schwarz. Offensichtlich hat der 54-Jährige ihn sich für diese Auftritte färben lassen.

"Auf die Wahrung seines Images bedacht"

Es ist bemerkenswert, wie sehr die US-Geheimdienste auf einmal das Licht der Öffentlichkeit suchen und gleich fünf Videos aus den Funden in Bin Ladens Anwesen zugänglich machen. Das hat natürlich damit zu tun, dass sie der staunenden Nation noch einmal den beispiellosen Erfolg des Einsatzes vor Augen führen wollen: "In Folge dieser Operation haben wir die größte Sammlung von Materialien eines hochrangigen Terroristen vorliegen, die wir jemals in Händen hatten", sagte ein hochrangiger Geheimdienstler in einer Pressekonferenz am Samstag im Pentagon. Dessen Name indes darf nicht veröffentlicht werden - schließlich ist in der Sache sonst alles streng geheim.

Offenkundig dient die Veröffentlichung der Videos aber auch der weiteren Rechtfertigung der Tötung des Terroristenführers. Deren Rechtmäßigkeit wird inzwischen nicht nur in Europa in Frage gestellt. So sagte der Menschenrechtler Chip Pitts, ein Dozent an der Stanford-Universität und ehemaliger Chef von Amnesty International in den USA, dass die US-Regierung den Einsatz kaum unter Kriegsvölkerrecht rechtfertigen könne. Allenfalls könne die Tötung Bin Ladens als Akt der Selbstverteidigung betrachtet werden. Dafür wiederum wäre nach Völkerrecht die Zustimmung Pakistans nötig gewesen.

"Die Menschen hier geben sich ihren Emotionen hin", sagte Pitts in einem Fernsehinterview, "aber wir müssen solche Fragen stellen." CIA-Chef Leon Panetta hingegen ließ am Wochenende eine Erklärung zu den Videos veröffentlichen, in der er den Einsatz erneut würdigte: "Das gefundene Material unterstreicht nur noch mehr, wie wichtig es war, Bin Laden zu finden."

Vor allem ist den Regierungsexperten in Washington nun eindeutig daran gelegen, den nicht zuletzt von ihnen selbst bisher verbreiteten Eindruck zu korrigieren, dass Osama bin Laden unter dem ständigen Druck der amerikanischen Suche nur mehr eine Art geistiges Oberhaupt von al-Qaida war und mit den konkreten Planungen des Terrornetzwerks wenig zu tun hatte.

Das sichergestellte Material beweise das Gegenteil, sagte der Geheimdienstler auf der Pressekonferenz im Pentagon: "Bin Laden war weit mehr als nur eine Leitfigur. Er war ein aktiver Führer, der seiner Gruppe strategische und taktische Anweisungen gegeben hat." Diese neue Erkenntnis zeige "nur noch mehr, von welch grundsätzlicher Bedeutung die jüngste Operation für die Sicherheit unserer Nation war".

Und nicht zuletzt wollen Amerikas Geheimdienste mit der Veröffentlichung der Videos wohl auch die Aura beschädigen, die Bin Laden nicht nur in den Augen seiner unmittelbaren Anhänger umgibt. Der Mann sei offenkundig "sehr an seinem Bild in der Öffentlichkeit interessiert" gewesen, sagte der US-Geheimdienstmann. Will sagen: Der Terrorist war eitel; er ließ sich den Bart färben, um jünger auszusehen. "Wir schließen daraus, dass er gerade eifersüchtig auf die Wahrung seines Images bedacht war."

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