Diskussion in Stuttgart:Gegen die Angst als Attitüde

Evangelischer Kirchentag 2015 - Eröffnung

Für den früheren Pastor Gauck ist der Kirchentag eigentlich ein Heimspiel.

(Foto: Bernd Weissbrod/dpa)

Joachim Gauck hält nichts von evangelischer Kapitalismus-Kritik.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Ach, diese Protestanten. "Manchmal", sagte Joachim Gauck, "preise ich meinen Schöpfer dafür, dass er die Katholiken erschaffen hat." Gelächter machte sich breit unter den Tausenden Zuhörern in der Schleyer-Halle, und tatsächlich hatte der Bundespräsident einen Witz gemacht. Aber der Witz war doch Ausläufer eines recht lebhaften Anfalls von Zorn. Und so grummelte Gauck, der ehemalige protestantische Pastor, in das Gelächter hinein, diese Katholiken könnten gottlob manchmal auch froh und dankbar sein. Und die Protestanten - sind verliebt in die Apokalypse?

Wettbewerb ist nicht zwingend schuld an der Entfremdung

Es ging um ein Thema, das wohl zur Grundausstattung Evangelischer Kirchentage gehört: dass etwas fundamental schief läuft in unserer Gesellschaft, und dass der Teufel in der Wirtschaft steckt. Im Kapitalismus. Als Hinführung zum Gespräch mit Gauck hatte der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa sein Bild einer Gesellschaft gezeichnet, die vor dem "kollektiven Burnout" stehe. Die Moderne habe ihr Glücksversprechen verraten, der Mensch sei gefangen im Hamsterrad von Wachstum, Innovation, Beschleunigung. Und die Politik halte es, mit Kanzlerin Angela Merkel, für "alternativlos", das Rad immer noch schneller zu drehen. Rosa schien seine Theorie von der "Temposchraube" mit seinem rasenden Redetempo untermalen zu wollen. Jedenfalls würgte er sogar den Beifall der Zuhörer ab: keine Zeit!

Joachim Gauck konterte mit demonstrativer Gemächlichkeit, aber überaus gereizt. Der "Herr Professor", wie er Rosa nannte, hatte ein Menschenbild gezeichnet, das ihm zutiefst widerstrebt. Entfremdet, machtlos, von Abstiegsangst gelähmt. Diese Angst, so findet Gauck, sei oft nur eine "Attitüde", eine Ausrede, um nichts unternehmen zu müssen gegen Not und Elend in der Welt. Sein Leben in der DDR hat Gauck gelehrt, dass der Kapitalismus und das Wettbewerbsprinzip nicht zwingend schuld sind an der Entfremdung des Menschen, sondern im Gegenteil ein Mittel zu seiner Befreiung sein können. Die Verve, mit der Gauck am Donnerstag in Stuttgart das hohe Maß an Freiheit und Wohlstand in Deutschland rühmte, ließ vermuten: Er hat vielleicht doch noch die Energie, um diese Botschaft in einer zweiten Amtszeit unters Volk zu bringen.

Seinen protestantischen Glaubensschwestern und -brüdern rief Joachim Gauck in Erinnerung, die Politik könne nur die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Menschen glücklich sind. Glücklich werden, das müssten die Menschen schon selbst.

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