Direkte Demokratie:Minarette und Zigaretten

Es geht wieder ein Gespenst um in Europa: die direkte Demokratie. Die einen sehen in Plebisziten "mehr Demokratie", die anderen eine Gefahr für den Rechtsstaat. Beide haben recht.

Heribert Prantl

Es geht schon wieder ein Gespenst um in Europa; es ist ein besonders unkalkulierbares Gespenst, es hat vielerlei Gestalten und Absichten.

Minarette-Verbot. dpa

In Amsteg in der Schweiz bedankt sich die Schweizerische Volkspartei bei den Bürgern für das gewonnene Referendum gegen Minarette.

(Foto: Foto: dpa)

In Bayern ist es ein wirtshausstürmendes Gespenst: Es ärgert die CSU, treibt die Raucher auf die Straße und bläst den Qualm aus Kneipen und Schankstuben. In Irland singt das Gespenst die Nationalhymne, es zerknüllt mit großer Geste den EU-Vertrag, wirft ihn in den Papierkorb, bleibt aber wankelmütig: Nach einiger Zeit holt es ihn wieder heraus und streicht ihn sorgsam glatt.

In der Schweiz führt sich das Gespenst auf wie der biblische Samson, der einst blindwütig den Tempel der Philister zum Einsturz brachte. Es wirft Minarette um; es ist ein religionsfreiheitsfeindliches Gespenst. Der Aktionsradius des Gespenstes reicht also von den Minaretten bis zu den Zigaretten.

Das neue Gespenst ist mal links und mal rechts

Das neue Gespenst ist nicht so leicht einzuordnen wie einst das Gespenst des Kommunismus. Das war damals links, es war proletarisch, und es wollte den Kapitalismus stürzen. Das neue Gespenst aber ist mal links und mal rechts, es ist einmal konstruktiv und ein andermal destruktiv, es ist abwechselnd progressiv, konservativ oder gar reaktionär.

Manchmal ist es ein guter Hirte, kümmert sich um neue Kindergärten und Umgehungsstraßen und um den Umweltschutz; es schreibt ihn, so einst in der Schweiz, mit Sorgfalt und großen Buchstaben in die Verfassung. Ein andermal aber rüttelt es an den Grundfesten dieser Verfassung, weil es im Namen der Mehrheit eine Minderheit kujoniert und sie der Rechte beraubt, die diese braucht, um als Minderheit in der Mehrheit zu leben. In einem solchen Fall macht das Gespenst, angeblich im Namen der Demokratie, den Rechtsstaat zuschanden.

Das neue Gespenst in Europa heißt direkte Demokratie. Manche nennen es Plebiszit, Volksabstimmung, Volksbegehren und Volksentscheid. Die einen sehen darin "mehr Demokratie", die anderen eine Gefahr für den Rechtsstaat. Und das ist das Gespenstische an dem neuen Gespenst: Beide haben recht. Das Plebiszit kann, wohldosiert und sorgsam angewendet, so etwas sein wie die Erfüllung der Demokratie. Das Plebiszit kann die Demokratie aber auch zerstören, wenn es die individuellen Bürger- und Menschenrechte missachtet.

Das Plebiszit kann also etwas Wunderbares sein, wenn es ein Ausdruck einer kollektiven Verantwortung für das Gemeinwesen ist, einer Verantwortung, die sich nicht darauf beschränkt, alle paar Jahre ein Parlament zu wählen. Das Plebiszit kann aber auch etwas Furchtbares sein, wenn sich darin nur die Egoismen addieren und Vorurteile gegenüber Minderheiten verfestigen.

Demokratie ist mehr als blanke Statistik, mehr als eine Abstimmungsprozedur; sie ist eine Wertegemeinschaft. Demokratie ist eine Gemeinschaft, die ihre Mitglieder achtet und schützt. Demokratische Entscheidungen sind nicht automatisch rechtsstaatliche Entscheidungen, sie stehen nicht - kraft Mehrheit - automatisch auf dem Boden der Verfassung.

Das weiß jeder, der in den vergangenen Jahren in Deutschland die Gesetzgebung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit verfolgt hat: Die Gesetze wurden mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen - und trotzdem dann vom Bundesverfassungsgericht korrigiert oder aufgehoben, weil sie mit den Grundrechten kollidierten.

Plebiszitäre Demokratie braucht ein Korrektiv

Mehrheit ist also nicht unbedingt gleichzusetzen mit Wahrheit, Richtigkeit und Verfassungsmäßigkeit. Das gilt im Parlament - das gilt auch für das Plebiszit. Eine Mehrheit beim Plebiszit hat keine höhere Dignität als eine Mehrheit im Parlament. Und ein Land ist gewiss keine beispielhafte Demokratie, wenn es per Plebiszit Menschen- und Freiheitsrechte missachtet. Es ist ein Beispiel für missverstandene, für statistische Demokratie.

Demokratie und Rechtsstaat sind Partner

Auch plebiszitäre Demokratie braucht ein Korrektiv, ein Kontrollorgan: ein Verfassungsgericht. Die Schweiz hat keines. Es fungiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg de facto als Verfassungsgericht.

Ein Plebiszit kann etwas Gutes sein, weil es die Bürger aufweckt, wenn es sie zum Mitmachen anregt; aber das Plebiszit ist nicht per se gut. Wenn eine Mehrheit der Bürger die Todesstrafe gutheißt, besagt das gewiss nicht, dass die Todesstrafe auch richtig ist. Und es wäre absurd zu unterstellen, dass bestimmte Menschen Rechte nur dann haben, wenn auch die Mehrheit dieser Ansicht ist.

Dann hätten Beschuldigte in spektakulären Strafverfahren, dann hätten Minderheiten bald nicht mehr viele Rechte; die Unschuldsvermutung hätte wohl nicht mehr lange Bestand, und der Rassismus hätte Oberwasser. In einer Demokratie, die Recht und Verfassung missachtet, herrscht nicht der Demos, sondern die Willkür wechselnder Mehrheiten.

In einer echten Demokratie regiert das Volk nicht statistisch, sondern gemeinschaftlich. Eine Demokratie, die mehr sein will als eine statistische Entität, braucht also stützende Institutionen und Hintergrundvoraussetzungen, welche die demokratischen Grundhaltungen festigen.

Man muss die Demokratie nicht vor der Verfassung retten, sondern man muss sie mit der Verfassung hegen und pflegen. Demokratie und Rechtsstaat sind Partner.

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