Direkte Demokratie:Mehr Plebiszit wagen

Der Trend zur Mitbestimmung: Bürgerentscheide werden zwar häufig behindert - doch allmählich etablieren sie sich in Ländern und Gemeinden.

Felix Berth

Damals sah alles verführerisch aus. Zwanzig Millionen Euro bekäme die Stadt Bochum, wenn sie ihr Kanalnetz an einen US-Investor verkaufen und für Jahrzehnte zurückmieten würde. Ein Geschäft, bei dem die Kommune nur gewinnen konnte, glaubte die Kämmerin Ottilie Scholz. Also reiste sie nach New York, um die Verträge für das "Cross-border-Leasing" zu unterzeichnen.

Direkte Demokratie: Mitglieder des Vereins "Mehr Demokratie" demonstrieren vor dem Berliner Reichstag - im Jahr 2000. Seitdem hat sich viel getan.

Mitglieder des Vereins "Mehr Demokratie" demonstrieren vor dem Berliner Reichstag - im Jahr 2000. Seitdem hat sich viel getan.

(Foto: Foto: dpa)

Zu Hause protestierten währenddessen die Bürger: Skeptiker wollten den Deal per Bürgerbegehren stoppen. Am 10. März 2003 hatte die Initiative ausreichend Unterschriften gesammelt, um einen Bürgerentscheid einzuleiten. Doch am 11.März unterschrieb die Kämmerin in New York den Vertrag. Kommentar des Rechtsdezernenten: "Sobald die Tinte trocken ist, gibt es nichts mehr zu entscheiden." Das Bürgervotum war ausgehebelt.

Heute, sechs Jahre später, sieht alles weniger verlockend aus. Die Kämmerin von damals, inzwischen SPD-Oberbürgermeisterin, muss erleben, dass die jüngere Wirtschaftsgeschichte den Bürgern recht gibt. Denn das Geschäft von 2003 dürfte für die Stadt Bochum teuer werden. Weil die beteiligte US-Versicherung AIG durch die Finanzkrise in Schieflage geriet, muss Bochum nun - wie im Vertrag vorgesehen - neue Sicherheiten finanzieren. Dafür kaufte die Stadt, die ohnehin immens verschuldet ist, soeben für 111 Millionen Dollar US-Staatsanleihen. Hätte sie das verweigert, wären hohe Vertragsstrafen fällig geworden.

Wie viel die Kommune unterm Strich für den Deal von 2003 bezahlen wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Der heutige Kämmerer hofft, dass nur "ein kleinerer Teil der damals erzielten Einnahme" verlorengeht. Doch die Aktivisten vermuten, dass von den erlösten zwanzig Millionen Euro nichts übrig bleibt. Günter Gleising, seit 2004 für eine linke Liste im Stadtrat, fühlt sich bestätigt: "Wenn die Verantwortlichen damals unseren Bürgerentscheid nicht ausgetrickst hätten, stünden wir heute besser da."

Hohe Hürden

Der Bürgerentscheid von Bochum ist ein gutes Beispiel für den Alltag der direkten Demokratie in Deutschland. Immer wieder scheitern Initiativen an Hürden, die von den Volksvertretern errichtet wurden. Mal sind in Landesgesetzen bestimmte Themen ausgeklammert - so können Kommunalpolitiker im Saarland und in Thüringen jeden Bürgerentscheid ausbremsen, der die Bauplanung oder kommunale Finanzen betrifft. Oder lokale Honoratioren tricksen wie in Bochum mit Terminen, sodass den Bürgern nichts zum Entscheiden bleibt. Oder gewählte Politiker nehmen ein Bürgervotum zur Kenntnis, um nach einer kurzen Schamfrist weiterzumachen wie zuvor.

Manchmal entsteht auf diese Weise ein jahrelanges Gerangel zwischen Initiativen und Gewählten. Soeben ist zum Beispiel in Hamburg eine Runde eines solchen Konflikts zu Ende gegangen. Angefangen hatte alles im Jahr 2002, erinnert sich der langjährige Vorsitzende von "Mehr Demokratie e. V.", Thomas Mayer: "Mit fünf Leuten haben wir Unterschriften gesammelt, um mit einem Volksentscheid ein demokratischeres Wahlrecht durchzusetzen."

Das gelang, doch die regierende CDU nahm die Reform per Gesetz wieder zurück. Das stachelte die Initiative an, die erneut ein Volksbegehren durchsetzte - und das Spiel ging weiter. Aktueller Stand: Am vergangenen Freitag hatten 76000 Hamburger das Begehren unterschrieben; nun wird wohl ein Volksentscheid folgen.

Trotz solcher Widrigkeiten etabliert sich die Partizipation der Bürger allmählich. Im Jahr 2008 gab es nach Zählung der Initiative "Mehr Demokratie" über 150 Bürgerentscheide - ein Wert, der vor ein paar Jahren noch undenkbar schien. Etwa die Hälfte fand in Bayern statt, weil die Hürden im Freistaat relativ niedrig sind: Kein Thema ist ausgeschlossen; um einen Bürgerentscheid durchzusetzen, braucht man vergleichsweise wenige Unterschriften. ,,Dort, wo es bürgerfreundliche Regelungen gibt, gibt es mehr Bürgerentscheide'', bilanziert Susanne Wehnisch von ,,Mehr Demokratie''.

"Politisches Kasperltheater"

In Bayern ist inzwischen sogar die Skepsis der CSU und der kommunalen Verbände geschwunden. Das Diktum des früheren Generalsekretärs Bernd Protzner vom "politischen Kasperltheater" ist inzwischen so vergessen wie der Generalsekretär selbst. Stattdessen lobten Günther Beckstein und Alois Glück die Errungenschaften direkter Demokratie - und zwar lange vor ihrem Ausscheiden aus ihren Jobs als Ministerpräsident und Fraktionschef. Sogar der Bayerische Gemeindetag, der 2000 Kommunen vertritt, freut sich über Bürger, die "verantwortungsvoll" mit ihren Rechten umgehen: "Es gibt keine Flut von Bürgerbegehren, und es treten keine Demagogen auf", sagt ein Sprecher des Verbandes.

Auch in den anderen Ländern steigt die Zahl der Plebiszite allmählich. So senkte der Berliner Senat im letzten Jahr die Hürden, und sofort nutzten zahlreiche Initiativen die Chance auf Mitbestimmung - zum Beispiel bei Entscheidungen über den Flughafen Tempelhof, über das Bauvorhaben "Mediaspree" oder über den verpflichtenden Religionsunterricht.

Nur auf Bundesebene sind Plebiszite bisher unmöglich, obwohl der Bundestag im Jahr 2002 einen Bundes-Volksentscheid einführen wollte. Doch weil es bei der Abstimmung im Parlament nur zur einfachen Mehrheit reichte - und nicht zur notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung - wurde daraus nichts. Das könnte sich ändern, sobald die Karlsruher Verfassungsrichter über die EU-Verträge urteilen: ,,Falls die Richter eine Volksabstimmung anregen, um die Lissabonner Verträge beurteilen zu lassen, bekäme die Bewegung für direkte Demokratie neuen Schub'', sagt der Aktivist Thomas Mayer.

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