Die Stasi-Akte des Karl-Heinz Kurras:Kleinbürger Kurras

An Karl-Heinz Kurras, West-Polizist und Ost-Spion, ist vieles rätselhaft. Doch seine Stasi-Akte gibt für alle Widersprüche und den Todesschuss auf Benno Ohnesorg eine scheinbar einfache Erklärung.

Hans Leyendecker

In der Welt des Karl-Heinz Kurras hatte immer Ordnung zu herrschen, und es gab Regeln und Normen, die gusseisern waren - egal, was da draußen passierte. Dazu gehörte: keine Schwäche zeigen, wo es keine Disziplin gibt, herrscht Chaos. Hier sind die Sauberen, da sind die Störenfriede.

Karl-Heinz Kurras, ddp

Karl-Heinz Kurras: Kleinbürger, Biedermann, linker Überzeugungstäter.

(Foto: Foto: ddp)

Wenn der Westberliner Polizeibeamte und Meisterschütze, der jahrzehntelang als "Otto Bohl" ein über alle Maßen tüchtiger Agent der Stasi war, einen ihm unbekannten Verbindungsmann in seiner Wohnung empfing, lautete die Losung: "Guten Tag, Herr Kurras, ich komme wegen der Schießabteilung." Kurras: "Ach, von Herrn Schneider." Verbindungsmann: "Ja, von Herrn Schneider." Der immergleiche Dialog könnte auch von Loriot stammen, und tatsächlich hat kein anderer Stückeschreiber die Seelenfalten der deutschen Kleinbürger genauer beschrieben als der Humorist Vicco von Bülow alias Loriot.

Im Sommer 1967, genau 47 Tage, nachdem der damalige Kriminalobermeister Kurras aus nächster Nähe den Demonstranten Benno Ohnesorg erschossen hatte, besuchte der Stern-Reporter Heiko Gebhardt den "sauberen Schützen" Kurras in dessen kleiner Wohnung, in der alles auffällig stimmig untergebracht war.

Die Kissen waren "symmetrisch angeordnet", die gelben Samtsessel "ausgerichtet wie Soldaten auf dem Exerzierplatz", notierte der Reporter. Und in dem grüngekachelten Bad lag "nichts herum, das auf Bewohner hindeuten" könnte. "Nirgendwo ein Staubkörnchen. Es ist, als wenn der Weiße Riese und Frau Saubermann einen Haushalt gegründet hätten. Kurras "erstarrte in Ordnung", bestätigte ein Polizei-Ausbilder.

Genau so wird der 1927 in Ostpreußen als Sohn eines Dorfgendarmen geborene trinkfeste Kurras, der in diesen Tagen Fotografen frech zuprostet und ganz gelassen tut, auch in den internen Berichten der Stasi beschrieben. Der fast zwanghaft autoritäre Polizist, der 1955 Spion wurde, galt seinen Agentenführern als "zuverlässig", "gewissenhaft" und "äußerst korrekt". Auffällig war aber sein "übermäßiger Hang zu Waffen", wie ein Stasi-Hauptmann notierte.

Kleinbürger Kurras

Bei der Spurensuche nach den Motiven des Todesschützen und Verräters helfen die oft gängigen Etiketten links und rechts nicht viel weiter. Seine Stasi-Akte, seine Prozess-Akten, Gespräche mit Bekannten von Kurras und die Eindrücke dieser Tage deuten auf eine andere Triebfeder bei diesem sturen Charakter hin: Kurras, der im Laufe der Jahre rund 20 000 Mark Spitzellohn erhielt, hat sich der Stasi bedient, weil nur sie seine teuren Schieß-Obsessionen möglich machte. Und sie hat sich seiner bedient, weil er ein im doppelten Wortsinn besessener Jäger und ordentlicher Spitzel war.

Mit seinem Weltbild vom Obrigkeitsstaat hätte Kleinbürger Kurras damals vermutlich ebenso wie Erich Mielke auch jenem Adolf von Thadden dienen können, der 1967 Chef der NPD wurde. Das Grundmuster war in beiden Lagern dasselbe: Es gab Sündenböcke und Feindbilder; die Ideologie war fanatisch oder borniert und die stimmige Welt im Kopf ließ man sich nicht durch den Augenschein verwirren.

Kurras, Überzeugungstäter

Kurras hasste, das bezeugen diverse Dokumente, das linke Gesindel, das in Kommunen hauste, nicht ordentlich studierte, sondern sich auf den Straßen Berlins herumtrieb. Er nannte Studenten "die fünfte Kolonne" und "Härte" war eine der Lieblingsvokabeln des Polizisten. Eine Woche nachdem ihr Agent am 2. Juni 1967 Ohnesorg erschossen hatte, zeichnete die "Verwaltung für Staatssicherheit" in Ostberlin seinen Weg nach.

Die Stasi-Akte des Karl-Heinz Kurras: Kurras' Opfer Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.

Kurras' Opfer Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.

(Foto: Foto: AP)

Die Tat sei "schwer zu verstehen", heißt es in dem Bericht, weil es sich "doch um ein Verbrechen" handle. Vielleicht habe "die Beeinflussung durch die "faschistische Ideologie" eine Rolle gespielt. Schon im "Kindesalter" habe Kurras, dessen Vater Gendarm war, Uniform getragen und sei mit "Waffen in Berührung" gekommen, von denen er sich auch nach dem Krieg nicht habe trennen wollen. Deshalb hätten ihn die sowjetischen Freunde auch ein paar Jahre in Sachsenhausen eingesperrt.

Eine unheimliche Leidenschaft

In Westberlin sei er 1950 Polizist geworden, weil er "seinem Hobby, dem Schießen" habe nachgehen wollen. Als er fünf Jahre später "aus persönlicher Verärgerung" den Weg nach Ostberlin gefunden habe und Volkspolizist werden wollte, habe er "weiterhin Umgang mit Waffen" haben wollen. Erst als er erfahren habe, dass "mit einer Einstellung bei der Volkspolizei nicht zu rechnen" sei und er folglich keine Waffe in die Hand bekomme, sei er in Westberlin geblieben und habe sich als Agent "Bohl" verpflichten lassen.

Immer wieder habe "der fanatische Anhänger des Schießsports" gedrängt, vom Ministerium für Staatssicherheit "bestimmte Waffen zu erhalten", die im Westen nur schwer zu bekommen seien. Auch habe der Berliner Meisterschütze gebeten, an Jagden in der DDR, Jugoslawien oder "anderen sozialistischen Ländern" teilnehmen zu dürfen.

Bei dieser Gelegenheit wollte er sich auch mit den Verbindungsleuten der Stasi treffen. Die Losung, "Herr Kurras, ich komme wegen der Schießabteilung", war ja allen Herrschaften bestens bekannt. Die "Leidenschaft" des Agenten für Waffen wurde aber sogar der Stasi etwas unheimlich. Kurras habe, so wird in dem Stasi-Bericht zum Ohnesorg-Tod vermerkt, einem zehnjährigen Jungen zum Geburtstag eine Pistole geschenkt und ihn zu Schießübungen mitgenommen. Das ging, auch unter Brüdern, doch etwas weit.

Anerkannter Überzeugungstäter

Vieles deutet darauf hin, dass der Sold, den der Verräter von der Stasi erhielt, für Waffen und Munition ausgegeben wurde. "Nach seinen Angaben", so vermerkte ein Stasi-Mann, "kauft er monatlich für 300 bis 400 Mark Munition."Die Faszination fürs Schießen und für Waffen hat durchaus, wie Joachim Güntner in einem Aufsatz ("Genuss am Schuss") in der Neuen Zürcher Zeitung bemerkte, ihre "libidinösen Seiten". Ernest Hemingway nannte seine Flinte bekanntlich seine "braune glatte Geliebte", andere liebkosen ihre Waffe mehr als ihr Ehegespons. Schießen, so Güntner, meine "ein Loch ins Objekt machen. Wo vorher ein Etwas war, soll ein Nichts werden." Der Schütze wolle Distanz überwinden und seine Reichweite ausdehnen: "Reichweiten-Erweiterung ist Macht-Erweiterung."

Nach dem Tod von Ohnesorg prahlte Kurras: "Wenn ich gezielt geschossen hätte, wie es meine Pflicht gewesen wäre, wären mindestens 18 Mann tot gewesen. Ich schieße mit der Linken ebenso gut wie mit der Rechten." Er brauche dabei nicht einmal ein Auge zuzumachen. Jahre später hat er in Interviews die Zahl der potentiellen Opfer aus unbekannten Gründen auf zwölf verringert.

Ideologisch betrachtet, hatte die Stasi an ihm nie was auszusetzen. Er war bauernschlau, gebrauchte die richtigen Wendungen, um als Überzeugungstäter anerkannt zu werden. "Bei politischen Gesprächen", so steht es in den Akten, zeige Agent Otto Bohl "eine richtige, aber gefühlsmäßige Einschätzung der gegebenen Lage. Hierbei ist zu erkennen, dass eine theoretische Grundlage völlig fehlt, er aber bei den Ausführungen interessiert zuhört und sie begreifen lernt."

Die Rolle des rechten Biedermanns

Anfangs allerdings hat sich das Ministerium für Staatssicherheit, wie nachzulesen ist, gefragt, ob der wirklich echt sei oder ein doppeltes Spiel spiele. Hatte Kurras, lautete die konkrete Frage, "im Auftrage einer feindlichen Dienststelle als Agent Provokateur die Verbindung" zur Stasi aufgenommen? Die Antwort war schlicht: Nein. Er habe immer "wertvolle Arbeit geleistet", und nie sei eine Deckadresse oder ein Verbindungsmann aufgeflogen. Vor allem als Mitglied der Abteilung I, dem polizeilichen Staatsschutz der Berliner Polizei, habe er "äußerst wichtige Originalunterlagen" geliefert. Er lieferte aktenweise Informationen über Fluchthelfer, mögliche Fluchttunnel, Fahndungslisten.

Er war die Topquelle an der Quelle. Er warnte, wenn anderen Agenten die Enttarnung drohte, und wenn der Hinweis zu spät kam, lieferte er zumindest die Vernehmungen von Ost-Agenten ab. Er berichtete über "desertierte" Mitglieder der Staatssicherheit. Er lieferte Listen über Personen, die ins Visier der Staatsschützer geraten waren, geheime Dokumente des Bundeskriminalamtes, Personalakten, Informationen über Postkontrollen, Vernehmungen von Schleusern.

Die Rolle des rechten Biedermanns

Um nicht aufzufallen, beteiligte er sich auch aktiv an der Suche nach möglichen Ost-Agenten. Er verriet Kollegen und war auch als Agent ein Jäger. Die erfolgreiche Hatz auf die anderen brachte ihm dann auch auf Antrag 1964 die SED-Mitgliedschaft ein. Zur Tarnung war er vorher in die SPD eingetreten.

Als er sich erstmals 1967 wegen der angeblich fahrlässigen Tötung Benno Ohnesorgs vor Gericht verantworten musste, spielte er erfolgreich die Rolle des rechten Biedermannes, der beinahe Opfer der Störenfriede geworden wäre. Alle, alle waren schuld - nur er nicht. Später wurde er suspendiert, hatte heftige Alkoholprobleme und wurde 1987 noch zum Oberkommissar befördert, bevor er in Pension ging. Für einige Kollegen war er der Held geblieben, der es denen da draußen mal gezeigt hatte.

Perfektes Mimikry

Die in diesen Tagen häufig skizzierte Theorie, die Geschichte der Achtundsechziger wäre anders verlaufen, wenn Kurras 1967 als Agent enttarnt worden wäre, liefert zwar Stoff für Diskussionen, ist aber rein spekulativ. Viel leichter fällt die Antwort auf die Frage, was dem Mann, der zweimal im Fall Ohnesorg freigesprochen wurde, vor Gericht bei einer Enttarnung passiert wäre. Zweifelsfrei wäre ihm damals vor dem Dritten Strafsenat des Bundesgerichtshofs wegen Landesverrats und Gefährdung der äußeren Sicherheit der Prozess gemacht worden.

Angesichts der Urteile aus jenen Tagen lässt sich das Strafmaß auf mindestens vier Jahre taxieren. Und das wäre noch gnädig gewesen. Schließlich standen damals selbst internationale Begegnungen von Wissenschaftlern nach der alten Vorschrift des Paragraphen 100e unter dem Damoklesschwert strafrechtlicher Ermittlungen. Bloße Beziehungen zu einem östlichen Partner reichten schon aus. Auch wäre er sicherlich in dem Fall Ohnesorg nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern mindestens wegen Totschlag angeklagt worden.

Die Mimikry des Mannes, der sich auch heute noch als verfolgende Unschuld aufführt, war alle Zeit perfekt. Als ihn 1967 Reporter Gebhardt vom Stern mit einer Pentacon aus der DDR fotografieren wollte, machte Kurras, der von der Stasi eine Minox bekommen hatte, richtig Ärger: "Wo haben Sie die denn her?", fragte er. "Genau die gleiche habe ich neulich bei einem Landesverräter sichergestellt."

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