Die SPD nach dem historischen Wahldesaster:Im Nachhall des Kanonendonners

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Clement schlägt Haken, Eichel geht durch die Tiefgarage, Platzeck knurrt, Müntefering beweist Galgenhumor - und Schröder schaut ins Irgendwo. Nur ein Trost bleibt den Sozialdemokraten: "Schlimmer geht's nimmer".

Von Nico Fried und Reymer Klüver

Der Minister kommt aus der Tiefe seines schwarzen Dienstwagens. Er täuscht rechts an, schlägt plötzlich einen Haken und versucht dann, links vorbeizukommen. Man merkt, dass Wolfgang Clement sich auskennt mit Alleingängen. Doch die gegnerischen Reihen sind beweglich, sie verfolgen ihn mitsamt ihren Kameras, Mikrofonen und Notizblöcken.

Die FDP-Prominenz Westerwelle und Koch-Mehrin findet vor Beginn der FDP-Präsidiumssitzung noch die Zeit für eine lustige Lektüre. (Foto: Foto: ddp)

Und schließlich zwingen sie den Superminister für Wirtschaft und Arbeit und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, doch noch etwas zu sagen. Es ist nur ein Satz, und Clement schnoddert ihn mehr so dahin. Aber an Klarheit lässt dieser Satz nichts zu wünschen übrig: "Schlimmer geht's nimmer."

Lieber den Schleichweg nehmen

Es ist Montag morgen, und für die Damen und Herren des SPD-Präsidiums, die sich ihren Weg ins Willy-Brandt-Haus bahnen, ist es der grauenhafteste Morgen danach, den sie seit langem erleben. Einige wie Ulla Schmidt oder Hans Eichel wählen lieber gleich den Schleichweg durch die Tiefgarage. Andere stellen sich und räumen offen ihre Ratlosigkeit ein.

Dann taucht ein gewisser Gerhard Schröder auf. Eine Wand von Journalisten steht vor ihm, und doch sieht es aus, als schaute er ins Irgendwo. Wie soll es weitergehen, Herr Bundeskanzler? Wie vom Tonband kommen seine Worte. Zum man weiß nicht wievielten Male sagt Schröder, es gebe keine Alternative zur Agenda 2010. Und fügt hinzu: "Ich kann nur diese Politik weiterführen. Und ich will nur diese Politik weiterführen."

Was der SPD am Sonntag widerfahren ist, hat selbst die Erwartungen der größten Skeptiker bei weitem übertroffen. 21,5 Prozent bei der Europawahl, das schlechteste SPD-Ergebnis aller Zeiten bei einer bundesweiten Wahl. Nach dem Wechsel von Gerhard Schröder zu Franz Müntefering im Parteivorsitz hatte man sich für die Europawahl eigentlich eine erste Stabilisierung zum Ziel gesetzt, dem Negativtrend sollte ein Boden eingezogen werden.

Mecklenburgischer Trotz

Das Ergebnis vom Sonntag hat diesen Boden durchschlagen wie eine Kanonenkugel. Und jetzt also: Augen zu und durch? Der Kanzler scheint nicht der einzige zu sein, der so verfahren will. Es gibt auch andere Sozialdemokraten, die ihre Partei nicht als Opfer der eigenen Politik, sondern eher der herrschenden Verhältnisse wahrnehmen. Immer wieder kommt der Hinweis, auch alle anderen EU-Regierungen, die ihre Länder reformierten, seien am Sonntag bestraft worden.

"Die SPD wird wieder zulegen, wenn sich die Erfolge der Reformen zeigen", sagt in beispielhaftem Trotz Harald Ringstorff, Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern. Aber wann wird das sein? Und was ist bis dahin? Die großen Angriffe bleiben allerdings aus, jedenfalls öffentlich. Man hätte erwarten können, dass mancher Sozialdemokrat über das Kabinett herfällt, dessen einzig verbindendes Element bisweilen der Egoismus jedes Einzelnen ist; über Schröder, der sich immer wieder frei nimmt von der Mühsal der Innenpolitik; über Clement, der den Wahlkampf durch manchen Sololauf gestört hat.

Ja doch, Einzelne knurren ein wenig, so wie Matthias Platzeck. Es gehe nicht an, sagt der Ministerpräsident von Brandenburg, dass manche in der Regierung "am Freitag einen Versuchsballon starten und am Dienstag sagen, es sei doch nur ein Referentenentwurf gewesen".

Wenigstens hinter verschlossenen Türen schimpfen

Wenn man den Menschen schon Belastungen zumute, dann müsse die Politik wenigstens aus einem Guss sein. Doch ansonsten scheint die SPD gewillt zu sein, die schwierige Situation nicht noch mit Schuldzuweisungen weiter zu verschlimmern, auch wenn manch einer sich erkennbar am Riemen reißen muss, bis er wenigstens hinter verschlossenen Türen schimpfen kann.

Die Lage ist also ernst, nur Franz Müntefering ist es nicht. Zumindest nicht die ganze Zeit. Er lächelt schon maliziös, als er aus der Präsidiumssitzung kommt. Wie ein Verlierer sieht der Parteivorsitzende nicht gerade aus. Und auch sein Auftritt trägt phasenweise geradezu humoristische Züge. Ziemlich locker räumt Müntefering ein, dass auch er sich zwar von dieser Wahl positive Zeichen versprochen habe, diese Hoffnung aber getrogen habe. Er sagt das so, als hätte er auf dem Markt Erdbeeren kaufen wollen, aber es waren halt noch keine da.

Natürlich kommt prompt die Frage, wo denn der berühmte Münte-Effekt geblieben sei. Daran habe er selbst nie geglaubt, antwortet Münte. Die Leute interessierten sich nicht wirklich dafür, wer SPD-Vorsitzender sei. Da hätten einige "einen Pappkameraden aufgestellt, nur um ihn dann umzupusten", und mit den "einigen" meint er vor allem die Medien. Deshalb habe er auch am Morgen in die Zeitungen geschaut in der festen Annahme, "ich hänge da mit dem Kopf nach unten". Aber ganz so schlimm sei es dann doch nicht gewesen, sagt Müntefering und schmunzelt über seinen Scherz.

Wirklich etwas Neues haben sie nicht anzubieten

Politisch hat er nicht wirklich etwas Neues anzubieten. Das Allerwichtigste sei, die Akzeptanz der Agenda 2010 zu verbessern, sagt er. Sehr originell ist das nicht, denn immerhin versuchen Partei und Regierung das schon seit Monaten, wobei Erfolglosigkeit noch ein sehr schwaches Wort für den Ertrag dieser Bemühungen ist. Vor allem die klassischen SPD-Wähler hat Müntefering im Blick, "die kleinen und armen Leute", wie er sie nennt. Kein Wunder, offenbart doch der Blick in die Wahlstatistiken, dass diese Gruppe der SPD in großem Umfang den Rücken zugewandt hat.

"Es muss deutlich werden, dass sich die Reformen für alle lohnen, dass jeder davon profitiert", sagt Müntefering. "Wir können das nicht für sofort versprechen, aber wir können versprechen, dass es so sein wird." Ob er nicht fürchte, dass der SPD allmählich die Zeit davonlaufe, wird der Parteichef noch gefragt. Da ist es auch schon wieder vorbei mit der Seriosität: "Dieses Jahr ist ein Schaltjahr", sagt Müntefering, "also vielleicht reicht's ja doch noch."

Auch zu den Grünen verliert er ein paar Worte. Das ist die Partei, die mit der SPD regiert, aber vom allgemeinen Frust nichts zu spüren bekommt. Im Gegenteil. "Ich freue mich für die Grünen und gratuliere ihnen", sagt Müntefering, was auch schon wieder ein guter Witz ist, wenn man bedenkt, dass die Grünen die SPD mancherorts sogar überholt haben. Er bitte allerdings darum, "dass sie nicht bei uns die Wähler klauen, sondern sie lieber bei den anderen holen".

Grüne im Schongang

Die Grünen selbst, so ist an diesem Morgen nach ihrem Triumph und dem Fiasko ihrer Partner zu spüren, wollen die Sozialdemokraten schonen. Im fernen Brüssel, beim Außenministertreffen, gibt Joschka Fischer die Sprachregelung vor, auf die man sich festgelegt hat: "Ein schwieriges Ergebnis" sei es für den Partner allemal, er sehe jedoch nicht, "dass das die Bundesregierung schwächt. Wir haben ein Mandat bis 2006." Aber genau das ist der Punkt. Eingraben können sie sich schon, nur was kommt dann?

"Was sollen wir jetzt anders machen?", lautet die bange Frage, die am Montagmorgen in den Spitzengremien der Partei, im Vorstand und im Parteirat, gestellt wird. Die Grünen haben keine Alternative, und, das geben sie gerne zu, sie haben auch keine Idee, wie die SPD das verlorene Vertrauen der Wähler zurückgewinnen könnte. Sie, die Grünen, haben es jedenfalls noch. Aber was nützt das?

"Wir werden bei dem Kurs bleiben, den wir eingeschlagen haben", sagt denn auch tapfer ihre Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt. Für schwierige Reformvorhaben gebe es eben "kurzfristig nicht immer Applaus". Das lässt sich leicht sagen, wenn man allen Beifall eingeheimst hat, die anderen aber die Prügel bezogen haben. Und die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn, eine Vertreterin der Parteilinken, assistiert brav: "Es hat jetzt wenig Sinn, Forderungen an den Koalitionspartner zu erheben."

Bange Fragen im Freudentaumel der Grünen

Schon am Sonntagabend war im Freudentaumel auf der Wahlparty der Grünen auch manch banges Schulterzucken zu sehen. Wo bleiben die Sozialdemokraten? In Hamburg, wo die Roten fast ein halbes Jahrhundert unangefochten regierten, sammelten die Grünen 103000 Stimmen ein und damit nur lächerliche 3000 weniger als die SPD. In Berlin wurden sie zweite Kraft, in Freiburg gar die stärkste Partei mit doppelt so vielen Stimmen wie die SPD.

In 22 Städten hatten sie Ergebnisse über 20 Prozent. Nur was bringt das? Auf dem Land können die Grünen bei weitem nicht die Verluste der SPD ausgleichen. Und sie wissen, dass sie aus dem Bündnis mit den Sozialdemokraten nicht herauskönnen. Deshalb betont die Parteivorsitzende Angelika Beer in vielen Satzgirlanden immer nur das eine: den "Grundkonsens mit der Sozialdemokratie".

Denn die schwarz-grüne Alternative ist im Thüringer Ergebnis zerstoben. Natürlich wird nachgerechnet. Warum hat die Partei dort beim EU-Votum um ein Prozent, das entscheidende Prozent, besser abgeschnitten als bei der Landtagswahl? Da liegt der Schluss nahe, dass die Debatte über Schwarz-Grün den ausschlaggebenden Kick lieferte.

Im Berliner Regierungsgeschäft, die Grünen ahnen es, "wird nun alles nur noch schwerer". Die SPD-Leute seien schon in den vergangenen Wochen "hypernervös" gewesen, stöhnt ein wichtiger Grünen-Mann. Wegen Kleinigkeiten in Gesetzestexten habe sich der Partner mit ihnen angelegt: "Die reagieren schon jetzt panisch auf jedes Lobbyinteresse."

Auch die Grünen, sagt eine andere Abgeordnete, seien doch mal in der Krise gewesen, aber so dramatisch wie bei der SPD sei es ihr nie erschienen. Dort habe die Basis mancherorts nicht einmal mehr Wahlkampf betrieben: "Mir macht das Angst."

© SZ vom 15.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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