Die letzten Kriegstage 1945:Tote trieben in der Lübecker Bucht

Cap Arcona im Hambuger Hafen; Cap arcona

Ab 1944 wurde der Luxusdampfer Cap Arcona für Flüchtlingstransporte aus Ostpreußen genutzt. Hier ist sie im Hamburger Hafen zu sehen.

(Foto: SZ Photo)

Am 3. Mai 1945 versenkten britische Bomber die Cap Arcona in der Ostsee. An Bord: Tausende KZ-Häftlinge. Die meisten starben. Und auf die Überlebenden warteten am Ufer die Deutschen.

Von Esther Widmann

Es war einfach nur Glück, sagt Henry Bawnik. Er ist Amerikaner, 89 Jahre alt und lebt in Buffalo, New York. Vor 70 Jahren, als der Zweite Weltkrieg in Europa endete, war das noch anders. Da hieß Henry Bawnik noch Herzko, er war kein Amerikaner, sondern ein polnischer Jude. Ein polnischer Jude, der erst die Hölle von Auschwitz überlebte und dann, wenige Tage, bevor der Krieg endete, eine der größten Schiffskatastrophen in der Geschichte.

Anfang 1945 ist Herzko Bawnik 19 Jahre alt. Vor vier Jahren haben die Nazis ihn aus seiner Heimatstadt Lodz verschleppt und in ein Konzentrationslager gesteckt, weil er Jude ist. Zuerst war er in Gutenbrunn bei Posen, dann sechs Wochen in Auschwitz, dann in Fürstengrube. Drei Lager, Tod und Elend hat er hinter sich, als der Lagerkommandant von Fürstengrube, der SS-Oberscharführer Max Schmidt, am Abend des 19. Januar 1945 die etwa 1200 Gefangenen im Lager zusammentreibt, um sie auf eine Reise zu schicken. Sie wird später als "Todesmarsch" traurige Berühmtheit erlangen.

Wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen

Die Rote Armee rückt immer näher, und kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen, das hat Heinrich Himmler persönlich angeordnet. Der Transport in offenen Viehwaggons ohne Essen oder sanitäre Einrichtungen erfüllt diesen Zweck sehr effektiv. Als der Zug in Mittelbau-Dora in Thüringen ankommt, leben nur noch ungefähr 200 Gefangene. Bawnik ist einer von ihnen.

Henry Bawnik 1945/46

Henry Bawnik im Jahr 1945/46

(Foto: Privat)

Er überlebt auch die nächsten zwei Monate Zwangsarbeit in Mittelbau. Kurz vor dem 11. April, als die Alliierten Thüringen erreichen, räumt die SS auch dieses Lager. Sie marschieren los. Wer nicht mehr laufen kann, wird unterwegs erschossen. Bawnik überlebt. Der Kommandant Max Schmidt weiß nicht, was er mit seinen Häftlingen anfangen soll. Als sie Ostholstein erreichen, bringt er einige von ihnen kurzerhand auf dem Bauernhof seiner Eltern in Neuglasau unter. Bawnik ist dabei. Die Bauern geben ihm zu essen und behandeln ihn wie ein menschliches Wesen. Er kann das kaum glauben - wo sie doch Deutsche sind.

Als erstes hörte er das Klappern der Holzpantoffeln auf dem Steinpflaster

"Was ich im Frühjahr 1945 als Kind gesehen habe, hat mich nie losgelassen", sagt Jörg Wollenberg. Er ist in Ahrensbök in Ostholstein geboren und aufgewachsen.

Jörg Wollenberg ist Anfang 1945 acht Jahre alt. Vom Krieg hat er nicht viel bemerkt. Doch seit März geht er nicht mehr zur Schule, weil im Schulhaus Flüchtlinge aus Ostpreußen untergebracht sind. Am frühen Morgen des 14. April steht er am Fenster seines Elternhauses an der Lübecker Straße. Lange bevor er etwas sieht, hört er das Klappern von Holzpantoffeln auf dem Steinpflaster. Dann sieht er eine Reihe von elenden, abgemagerten Gestalten in gestreifter Kleidung vorbeiziehen. In den folgenden Wochen sieht er sie auch auf dem Landgut in Neuglasau, als er beim Bauern Milch holt.

Etwa eine Woche lang arbeiten Bawnik und die anderen auf dem Hof von Max Schmidt. Dann geht es wieder los, auf die Straße nach Neustadt. Kurz vor Mittag kommen sie an. Die SS beginnt, die Menschen in Boote zu verfrachten. Aus irgendeinem Grund fangen sie diesmal am Ende des Alphabetes an, bei Z. Bawnik ist einer der letzten, der losfährt.

Drei Kilometer vor der Küste ankert mit einem Motorschaden der ehemalige Transatlantik-Luxusdampfer Cap Arcona. Schon vor Wochen hat die SS begonnen, das für 850 Passagiere ausgelegte Schiff mit 5000 Häftlingen aus geräumten KZs vollzustopfen. Warum, darüber gibt es nur Spekulationen. Wollen die Nazis die Schiffe mit den Häftlingen darauf in die Luft sprengen? Oder wollen sie sie einfach versenken, um alle Spuren zu verwischen?

Das Meer voller Schiffe. Der Himmel voller Flugzeuge

Als das kleine Boot mit Bawnik und den anderen an der Cap Arcona ankommt, weigert sich der Kapitän, sie aufzunehmen. Das Schiff ist voll, sagt er. Das ist ein Befehl, sagt die SS. Also klettern die Gefangenen hinüber. Weil nirgendwo Platz ist, bleibt Bawnik auf der rechten Seites des Decks stehen.

Die Lübecker Bucht ist voll mit U-Booten und Frachtschiffen, darunter auch die Thielbek, auf der sich zu dieser Zeit knapp 3000 Gefangene aus dem KZ Neuengamme befinden. Und der Himmel ist voll von Flugzeugen der britischen Royal Air Force.

Gedenkstätte an die Opfer der Cap Arcona

Gedenkstätte für die Opfer der Cap Arcona auf dem Ehrenfriedhof in Neustadt, Schleswig Holstein

(Foto: dpa)

Als Bawnik erst wenige Stunden auf der Cap Arcona ist, es ist der frühe Nachmittag des 3. Mai, reißen Raketenbomben aus fünf britischen Jagdflugzeugen die linke Seite des Schiffes auf und setzen sie in Flammen. Bawnik sieht die Menschen unter Deck bei lebendigem Leibe verbrennen. Einer von ihnen ist ein Kapo, den sie "Kaiser Wilhelm" nannten. Er ist die erbärmlichste Person, die Herzko je gekannt hat. Jetzt verbrennt Kaiser Wilhelm vor seinen Augen. Auch das Deck brennt und wird sehr heiß, doch der Wind weht von rechts nach links, so dass die Flammen Bawnik nicht erreichen.

In ein paar Minuten werde ich tot sein, denkt Bawnik

Plötzlich kippt das Schiff nach links. Bawnik hält sich an einem Seil fest, das Schiff legt sich auf die Seite, und Bawnik hängt im acht Grad kalten Ostseewasser. Er kann nicht schwimmen. In ein paar Minuten werde ich tot sein, denkt er. Dann hört das Schiff auf zu sinken, das Wasser ist nur 18 Meter tief, ein paar Meter des riesigen Schiffsrumpfes ragen aus dem Wasser. Bawnik hält sich an dem Seil fest.

Um ihn herum sind Hunderte Menschen im Wasser. Nicht alle können schwimmen, und die britischen Piloten schießen mit den Bordwaffen ihrer Flugzeuge auf alles, was sich bewegt. Drei oder vier andere versuchen, zu dem Seil zu kommen. Bawnik sieht, wie zwei andere es loslassen und im Wasser versinken. Dann sieht er Peter Abramowicz, seinen Freund aus dem Lager. Er blickt über die Seite des Schiffes und sagt: "Herzko, ich ziehe dich hoch." Bawnik weiß nicht, wie Abramowicz es schafft, aber er zieht ihn hoch auf die Seite des liegenden Schiffes. Ungefähr 200 Leute haben sich hierhin gerettet. Und da sitzen sie nun, stundenlang.

Ist der Tod von mindestens 7000 Menschen am 3. Mai 1945 das Ergebnis eines tragischen Irrtums oder ein Kriegsverbechen? Das Rote Kreuz hatte das britische Militär offenbar am Abend zuvor informiert, welche Fracht die Schiffe in der Lübecker Bucht geladen hatten. Doch die offizielle Dokumentation der Royal Air Force liegt noch bis 2045 unter Verschluss.

Die Hitlerjungen am Strand machen Schießübungen auf die Häftlinge

Der achtjährige Jörg Wollenberg in Ahrensbök hat von der Bombardierung nichts mitbekommen. Was er aber mitbekommt, ist, dass die älteren Hitlerjungen am Strand von Neustadt Schießübungen auf Häftlinge machen dürfen. Also setzt er sich auf sein Fahrrad mit den Vollgummireifen und fährt mit seinem Freund hin.

Ein paar der KZ-Häftlinge von den Schiffen schaffen es, die drei Kilometer zum Land zu schwimmen. Dort steht Jörg Wollenberg und sieht, wie die Deutschen die auf den Strand kriechenden Menschen erschießen und mit dem Spaten erschlagen.

Nach ein paar Stunden tauchen einige Schleppboote bei der Cap Arcona auf. Bawnik ist überzeugt: Die Deutschen kommen, um uns zu holen. Sie laden ihn und die anderen in die Boote. "In welches Lager gehen wir jetzt?", fragt Bawnik einen der Deutschen. "Keine Lager mehr für dich", antwortet der Deutsche. "Die Engländer sind in der Stadt."

Jörg Wollenberg fährt zum Schwimmen nur noch an den See

Herzko Bawnik ist einer von ungefähr 200 KZ-Häftlingen, die das Inferno in der Lübecker Bucht überleben. Die Leichen der tausenden anderen werden noch jahrzehntelang rund um die Bucht angeschwemmt. Jörg Wollenberg, der seit jenem 3. Mai 1945 zum Schwimmen nur noch an den See fährt, hört von seinen Freunden, dass sie beim Baden am Meer von Stein zu Stein springen, und ab und zu macht es "Plupp", und der Stein war ein Kopf.

Mit der Besetzung durch die Briten ist der Krieg in Ostholstein zu Ende. Herzko Bawnik ist jetzt theoretisch frei. Doch er hat keinen Ort, an den er zurückkehren könnte. Ein Jahr lang lebt er bei den Eltern des Lagerkommandanten Max Schmidt in Neuglasau, später in Ahrensbök. 1949 immigriert Herzko Bawnik im Zuge des Displaced Persons Acts von Präsident Truman in die USA.

Henry Bawnik 2011

Henry Bawnik 2011 mit seiner Frau Linda in den USA

(Foto: Henry Bawnik)

In dem Augenblick, erzählt Herzko, jetzt Henry Bawnik 70 Jahre später, in jenem Augenblick, als ihm der Deutsche im Schleppboot sagte, dass er nicht gekommen war, um ihn in ein weiteres Lager zu stecken, da war es, als ob er neu geboren würde. "Ich sollte sagen, dass ich nicht 89 bin. Ich wurde eigentlich 1945 geboren, in einem Schleppboot in der Lübecker Bucht."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: