Die islamische Welt:Niedergang im Morgenland

Reinhard Schulze betrachtet die Gewaltexzesse im Nahen Osten als Folge der unumkehrbaren "Erosion der islamischen Öffentlichkeit". An die Stelle von politisch gesteuerter Integration trat der Konsum.

Von Rainer Stephan

Wie islamistisch ist der Islam? Haben wir es hier tatsächlich mit einem in sich geschlossenen System zu tun, unfähig zum integrativen Austausch mit anderen Kulturen? Reinhard Schulze ist dieser These in seiner 1994 veröffentlichten "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" dezidiert entgegengetreten. Und er tut das auch in der jetzt erschienenen grundlegend neu bearbeiteten und aktualisierten Fassung dieses Buches.

In einer sämtliche vom Islam geprägten Länder einbeziehenden Analyse zeigte Schulze, wie sehr die islamische Welt - das heißt im Sinn dieses Buchs: der gesellschaftliche und politische Diskurs innerhalb der islamischen Öffentlichkeit - gerade von immer neuen Versuchen geprägt war, den Islam mit westlichen Konzepten zu verbinden und ihn so zu modernisieren.

Es waren so gut wie alle Strömungen und Institutionen des Islam, die sich, mit verschiedener Intention und Intensität, in diesen Reformierungsprozess einbanden - Schiiten und Sunniten, Rechtsschulen und Ordensgemeinschaften, Universitäten und politische Vereinigungen, Diplomaten und Untergrundorganisationen. Sie alle stritten in wechselnden Konstellationen und Koalitionen mit- wie gegeneinander um den richtigen Weg des Islam in die Moderne.

Weil dieser Streit von nationalstaatlichen Ideen mitgeprägt wurde, zersplitterte er sich in eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Richtungen und Akteuren. Vielen von ihnen geht das Buch, von Schauplatz zu Schauplatz wechselnd, sehr detailliert nach - oft derart detailliert, dass der Leser die Übersicht zu verlieren droht. Um dem abzuhelfen, entwickelt Schulze eigene Orientierungslinien - eigen auch in dem Sinn, dass sie dem aktuellen Common Sense nicht selten entgegenstehen. So subsumiert er unter dem Begriff "Salafiya" nahezu jede Art von Reformpolitik, die vordergründige, in Formeln und Riten erstarrte islamische Traditionen verwirft, um auf der Basis eines "urislamischen" Ideals Anschluss an die Moderne zu finden.

Dubai's rapid transformation from a desert outpost into one of the world's most architecturally stunning cities is mapped out in the Marina

Turmbau zu Dubai: Konsum und Kommerz sind für Reinhard Schulze Auslöser der Krise der islamischen Welt.

(Foto: Kamran Jebreili/AP)

Das beschriebene Phänomen tritt in ähnlicher Weise auch in westlichen Ländern auf

Keine Rede also davon, dass es in der islamischen Welt weder kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Kultur noch Anstrengungen zu einer zeitgemäßen Selbstreformierung gegeben habe. Eine ganz andere Frage ist die nach dem Erfolg all dieser Bewegungen. Reinhard Schulze weicht ihr keineswegs aus. Schon die erste Fassung seines Buchs liest sich, zumal aus heutiger Perspektive, als Geschichte eines großen Scheiterns: "Die Vision von einer Neugestaltung der islamischen Welt auf der Grundlage eines Primats des Staats oder der Gesellschaft wurde Ende der achtziger Jahre nur noch von wenigen islamischen Intellektuellen aufrechterhalten. So verwundert es nicht, dass populistische Kreise in der islamischen Öffentlichkeit Raum dafür fanden, mittels eines auf wenige Symbole reduzierten Islam der sozialen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen."

So düster sich dieses Fazit anhört, so wenig konnte es vorwegnehmen, was dann vor und nach der Jahrhundertwende eskalieren sollte: die dramatischen Ereignisse des sogenannten Arabischen Frühlings, die Terrorexzesse von al-Qaida oder IS. Deshalb entschloss sich Schulze nun zur Revision und Erweiterung seines Werks. Allein die beiden neuen Schlusskapitel - sie umfassen an die 200 Seiten - beschreiben allerdings keine wirkliche Entwicklung mehr, sondern ein Untergangsszenario. Was wir im Westen heute als "islamistische" Gewaltexzesse erleben, deutet Reinhard Schulze ganz und gar nicht als Wiedererstarken eines wie auch immer mutierten Islam, sondern als Folge der unumkehrbaren "Erosion der islamischen Öffentlichkeit".

Öffentlichkeit meint dabei im Sinn von Jürgen Habermas den Diskursraum, in dem sich gesellschaftliche Normen wie staatliche Strukturen bilden und zugleich kontrollieren lassen können. Dessen Verfallskrise entwickelt sich zwar in der islamischen Welt unter anderen, weniger "aufgeklärten" Voraussetzungen als im Westen, aber letzten Endes mit ähnlicher Wirkung.

Schulze spricht angesichts solcher Auflösungstendenzen von einem "zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit", in dem mit der Zivilgesellschaft auch die sie repräsentierenden "bürgerlichen" Medien die Kontrolle über den öffentlichen politischen Diskurs vollends zu verlieren drohen. Als islamisches Phänomen lässt sich das in der Tat kaum deuten; der Ausdruck "Lügenpresse" ist ja keine islamische oder gar islamistische Erfindung.

Die islamische Welt: Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2016. 760 Seiten. 34,95 Euro. E-Book: 29,99 Euro.

Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2016. 760 Seiten. 34,95 Euro. E-Book: 29,99 Euro.

(Foto: Verlag)

"Die Konvergenz des Niedergangs ideologischer Ordnungsvorstellungen in der islamischen wie der westlichen Welt", so Schulze, "lässt vermuten, dass in den 1980er Jahren allgemein das Vertrauen in eine politisch planbare Zukunft der Gesellschaft schwand." Den Verursacher dieser Entwicklung weiß Schulze durchaus zu nennen: An die Stelle einer politisch gesteuerten Integration "trat schlicht der Markt". Und der entfaltet seine Macht vollends ungehemmt, seit jene islamisch-staatssozialistischen Modelle zusammenbrachen, in denen Bildung noch "eine der wichtigsten dieser Ressourcen für ein gelungenes Leben" darstellte. "Durch die wachsenden Konsumerwartungen trat der Wert der Bildung als Ressource in den Hintergrund und musste dem Konsum selbst weichen."

Orientierung am Konsum allein aber bedeutet unheilbare Frustration für alle, denen er nicht zugänglich ist. Sie werden Ziel und Beute einer Propaganda, in der "der Islam als Normenordnung ohne jede Wertebindung gepredigt wurde. Dieser Islam bewertete nicht nach moralischen Kategorien, sondern lediglich nach der Unterscheidung zwischen 'richtig' und 'falsch'. In die Selbstidentifikation der Akteure mit der Position der Richtigkeit konnten sich endzeitlich-ekstatische Erwartungen mischen" - keine wirklichen Utopien also, sondern deren auf die Zerstörung der Welt wie die des gequälten eigenen Ich gerichtetes Gegenteil.

Aus alledem folgert Reinhard Schulze: Es ist nicht der starke, sondern der kaputte Islam, vor dem wir Angst haben müssen, auch weil sich darin die Angst vor uns selbst spiegelt. Abend- und morgenländische Wertsysteme mögen schwer miteinander zu vereinbaren sein. In ihrem Zusammenbruch werden sie sich auf schreckliche Weise gleich.

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