Die Heilige Kuh:Ein ganz entspanntes Tempel-Tier

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Ihre Milch, ihr Dung und ihr Urin werden verehrt, doch jenseits aller Anbetung sind die Rinder auch in Indien nicht sicher vor dem Metzger

Von Stefan Klein

Delhi - Anderswo steht sie im Stall oder auf der Weide. In Indien findet man sie überall. Zum Beispiel mitten auf der Straße. Auf vier Spuren mag der Verkehr tosen, aber liegt eine Kuh auf der Fahrbahn, weil sie gerade dort ein bisschen über die großen philosophischen Fragen dieser Welt nachdenken möchte - tost er eben drumherum.

Oder im Bahnhof. Alles rennt hektisch durcheinander, nur die Kuh wandert gemächlich umher, wedelt sich lässig die Fliegen weg, beschenkt die Bahnsteigkante mit einem dampfenden Fladen - und träumt sehnsüchtig von der Ferne. Oder am Strand, sagen wir in Goa: Auch da würde sie niemand verjagen. Die Schönheit des Meeres ist für alle da, die indische Kuh eingeschlossen.

So gesehen muss man sich nicht wundern, die indische Kuh sogar in einem bedeutenden Heiligtum anzutreffen. Der Hanuman-Tempel im Zentrum von Delhi ist eine altehrwürdige religiöse Antiquität aus der Zeit der Moguln. Dem überaus beliebten Affengott Hanuman wird hier gehuldigt, und entsprechend groß ist der Andrang.

Glocken, Weihrauch, Opfergaben, Blumengirlanden, heiliges Wasser, Gläubige, die kommen und gehen - auch eine noch so stoische Kuh könnte hier leicht nervös werden, doch der Hohepriester Mahant Jagan Nath Dass hat vorgesorgt. Lakschmi, die Kuh, und Gangu, das Kälbchen, haben eine ruhige Ecke ganz für sich allein. Makellos sauber ist die und hat sogar eine Klimaanlage.

Nicht, dass die viel ausrichten könnte gegen die Hitze in der nach außen nur durch einen Stoffvorhang abgetrennten Nische, aber vielleicht hat die Windmaschine ja ohnehin nur eine symbolische Bedeutung - zum Zeichen, dass dies keine Kreatur ist wie jede andere. Man merkt es auch am Verhalten des Priesters.

Vom Priester verwöhnt, vom Autoverkehr verschont

Der ist ein etwas wild wirkender Geselle mit langen Haaren, vom Betelsaft braun verfärbten Zähnen und gewaltigem roten Schmier aus Sandelholzpaste auf der Stirn. Aber Lakschmi, der Tempelkuh, könnte er sich kaum mit größerer Ehrerbietung nähern. Sachte setzt er sich zu ihr auf den Boden und streichelt sehr zärtlich ihren Kopf.

Vom Priester verwöhnt, vom Autoverkehr verschont, von Millionen Hindus verehrt - so ist das, wenn man heilig ist. Im Hindu-Pantheon hat die indische Kuh ihren ständigen Platz an der Seite von Lord Krischna, und im wirklichen Leben ist sie zum Beispiel vom Freiheitshelden Mahatma Gandhi geadelt worden.

Der sah in der "Mutter Kuh" Qualitäten, die er "in vieler Hinsicht" für besser hielt als die der menschlichen Mutter. Ihrem Dung und ihrem Urin werden magische Heilkräfte zugeschrieben, und der bis vor kurzem amtierende Wissenschaftsminister Murli Manohar Joshi kann sich noch gut daran erinnern, wie er als Kind Leute beobachtete, die den Urin der Kuh tranken, und zwar "direkt von der Quelle".

Ein großer Mythos, man darf ihm nur nicht zu tief auf den Grund gehen. Sonst kann es einem ergehen wie dem Historiker Dwijendra Narayan Iha, der in einem gut recherchierten Buch den Nachweis führte, dass anders als bisher angenommen die indische Kuh keineswegs immer schon sakrosankt und unverletzlich war.

In altindischen Texten, den Weden, fand Iha genug Hinweise, dass Rinder früher gerne geschlachtet und gegessen wurden - zum Beispiel bei festlichen Gelegenheiten. Auch für Opferrituale hätten die Tiere herhalten müssen. Derlei Erkenntnisse freilich trafen in Indien einen hoch empfindlichen Nerv, und die Veröffentlichung des Werkes wäre daran beinahe gescheitert.

Wirbel um die Unverletzlichkeit der Kuh

Es gab Drohungen gegen den Buchverlag, Drohungen gegen den Autor, von Blasphemie war die Rede, die Gerichte wurden eingeschaltet, und obwohl es das vom Islam her bekannte Instrument der "Fatwa" im Hinduismus nicht gibt, so fand sich doch ein Fanatiker, der dem Autor Iha den Tod verhieß.

Der hatte am Ende keine andere Wahl, als das Buch im Ausland auf den Markt zu bringen. So ein Wirbel, aber es war nicht der erste, der sich am Phänomen der heiligen indischen Kuh entzündet hat. Ein so friedliches und nützliches Tier, aber eines, das große und gefährliche Leidenschaften zu entfachen vermag - gerade weil es ein so starkes Symbol des Hinduismus ist.

Bewegungen zum Schutz der indischen Kuh hat es immer gegeben, und weil es vor allem die 140 Millionen Muslime sind, die jenseits aller Vergötterung ein saftiges Filetstück zu schätzen wissen, haben die Wächterbrigaden nicht selten ihr Mütchen an den Andersgläubigen gekühlt.

Blutige Auseinandersetzungen im Namen der Kuh

Die Ortsnamen Azamgarh, Ayodhya, Shahabad stehen für blutige Auseinandersetzungen im Namen der Kuh. Hunderte kamen dabei ums Leben. Mögen diese Vorfälle auch lange her sein, explosiv ist die Sache nach wie vor. Das sah man im vorigen Jahr, als die Tötung einer Kuh im Bundesstaat Madhya Pradesh erst die Straße und dann die Politik entflammte. Es waren vor allem die seinerzeit regierenden Hindu-Nationalisten der BJP, die sich ereiferten.

Kongress-Politiker aber konterten, das sei doch alles Heuchelei - schließlich habe sich unter der BJP die Produktion und der Export von Beef vermehrt. Das wiederum rief den damaligen Premierminister Atal Behari Vajpayee auf den Plan mit der Ankündigung eines landesweiten Schlachtverbots für Kühe.

Es ist nämlich keineswegs so, wie man vermuten könnte: Die Kuh mag in Indien zwar heilig sein, doch das schützt sie keineswegs überall vor dem Metzgermesser. In einer ganzen Reihe von Bundesstaaten - von Kerala im tiefen Süden über Tamil Nadu, West Bengal bis zu den Kleinstaaten im Nordosten - ist es langjährige legale Praxis, Kühe zu schlachten und ihr Fleisch zu verzehren.

20 Millionen Stück Vieh werden jedes Jahr in Indien geschlachtet - und das ist nur die offizielle Zahl. Allein in Kerala gibt es mehr als 700 Schlachthäuser, und die Kundschaft besteht keineswegs nur aus Christen und Muslimen. Viele Hindus dort sind regelmäßige Rindfleischesser. Kein Wunder, dass ein allgemeines Schlachtverbot in Kerala auf Empörung stoßen würde, zumal es nicht nur um Essgewohnheiten, sondern auch um eine bedeutende Industrie geht, die Tausende von Menschen beschäftigt.

Retterin der bedrohten Kuh

Doch aus der Sicht der BJP war die Gelegenheit zu günstig, um sie ungenutzt zu lassen: Wahlen standen bevor, Gefühle waren in Wallung zu bringen, und da kam die Chance, sich zur Retterin der bedrohten Kuh aufzuschwingen, gerade recht.

Derlei Agitation ist aber immer auch ein Spiel mit dem Feuer, denn sie rührt an die säkularen Grundlagen des Staates und jagt jenen Furcht und Schrecken ein, die ohnehin schon in Angst vor den Hindu-Zeloten leben - den Muslimen. Einerseits.

Andererseits hat es unter den verschiedensten Regierungen - 1982 zum Beispiel unter Indira Gandhi - schon so viele vergebliche Versuche gegeben, ein nationales Schlachtverbot für Kühe durchzusetzen, dass man das Scheitern des jüngsten Vorstoßes fast ahnen konnte. Im August vergangenen Jahres war es soweit: Weil ihre Koalitionspartner nicht mitmachten, musste die BJP ihren Plan aufgeben, das Töten von Kühen unter schwere Strafe zu stellen.

Der Hohepriester Mahant Jagan Nath Dass hat es bedauert. "Die Kuh," sagt er und blickt liebevoll auf Lakschmi und ihr Kälbchen, "ist die Mutter unserer Religion." Mit Fundstücken aus dem Weda wie jenen des Historikers Iha muss man ihm nicht kommen, er redet lieber über die "heiligen Funktionen" der Kuh - die Produktion von Urin, Dung und Milch.

Vermutlich hat er dabei reichlich idealisierte Vorstellungen, denn anders als seine wohl genährte und bestens gepflegte Lakschmi fristen deren Artgenossen etwa in den Dürregebieten des Landes oder aber in den Straßen von Delhi eine ausgesprochen miserable Existenz - und das nicht etwa, weil es ihnen an einer Klimaanlage mangelte.

Die Mutter der Religion

Eine Kuh, die auf schwer befahrenen Straßen zwischen Lastwagen, Autos, Motorrad-Rikschas und Fahrradfahrern umherstromert, mag der Tourist vielleicht pittoresk finden - in Wahrheit jedoch zeigt sich da das traurige Dasein von missbrauchten Tieren.

In Europa sind Kühe ganz gewöhnliche Nutztiere, aber dort kommt auf jede einzelne von ihnen eine tägliche Subvention von zweieinhalb Dollar. In Delhi ist die Kuh bei aller Heiligkeit meist ein abgemagertes Viech, das in stinkenden Müllhaufen herumstöbert auf der Suche nach etwas Essbarem und am Ende doch wieder nur ein Stück Pappkarton findet.

Missbrauchte Tiere

Meist gehört sie zu einer der vielen illegalen Molkereibetriebe, die mit ein bisschen Milch Geld zu machen versuchen, ansonsten aber die Tiere im Dschungel der Großstadt ihrem Schicksal überlassen.

Doch damit soll nun Schluss sein. Die Stadtverwaltung von Delhi ist dabei, eine gerichtliche Verfügung umzusetzen, die besagt, dass bis Oktober alle diese ungesetzlichen Ställe zu schließen und Tausende umherirrende Kühe in so genannten Gaushalas unterzubringen sind.

Es handelt sich dabei um Asyle am Rande der Stadt, wo ein tierwürdiges Leben garantiert ist - wie zum Beispiel das "Sri Krishna Gaushala" im äußersten Westen von Delhi. Eine Einfahrt wie zu einer großen Farm, und neben dem Tor eine Inschrift in Hindi: "Die Kuh ist meine Mutter, und dies ist die Grundlage unserer nationalen Religion. Die Kuh ist der Reichtum des Landes, und deshalb muss sie geschützt werden."

Es sind 987 Kühe, die hier ihren Schutz gefunden haben, und entsprechend riecht es. Millionen Fliegen hat der Platz angezogen und einen alten Herrn namens Shagan Lal Gupta, der die Aufsicht führt über den Betrieb mit seinen mehr als dreißig Arbeitern. Er tut das ehrenamtlich, als eine Art Gottesdienst.

Er sagt: "Wir versuchen, den Kühen ein gutes Leben zu geben." Die Silos sind gut gefüllt, aber es kommen auch jeden Tag Leute mit Säcken voller Köstlichkeiten, die sie meist persönlich an die Tiere verfüttern. Eine gute Tat für ein göttliches Tier - auf dass sich das Karma verbessere.

© SZ vom 29.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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