Drahtzieher der Anschläge von Paris:Der "Islamische Staat" wird global

Drahtzieher der Anschläge von Paris: Trauer in Ankara und Paris (links und rechts), ein Wrackteil der abgestürzten Maschine auf dem Sinai

Trauer in Ankara und Paris (links und rechts), ein Wrackteil der abgestürzten Maschine auf dem Sinai

(Foto: AFP/AFP/EPA)
  • Die Anschläge in der Türkei, in Ägypten und nun in Paris zeigen, dass der IS sein Terrorregime auszudehnen versucht.
  • Der IS würde sich damit wandeln zu einem Hybrid aus paramilitärischen Milizen, die im Nahen Osten kämpfen, und einer überregionalen Organisation, die sich Terrortaktiken bedient, wie man sie von al-Qaida kennt.
  • Neu ist die Dimension der Gewalt und das hochgradig koordinierte Vorgehen verschiedener Gruppen an multiplen Schauplätzen.

Von Paul-Anton Krüger

Bis zu den Anschlägen von Paris am Freitagabend schien die Bedrohung durch den "Islamischen Staat" (IS) weit weg von Europa zu sein. Scheinbar endlose Kolonnen sandfarbener Jeeps und Pick-ups, die mit wehenden schwarzen Fahnen durch die irakische Wüste fahren - so erregte die Terrormiliz im Sommer 2014 weltweit Aufsehen.

Sie eroberte Gebiete in Irak und in Syrien, die zusammengenommen so groß sind wie Großbritannien. Al-Qaida hatte dagegen seit Mitte der Neunzigerjahre auf spektakuläre Anschläge gegen westliche Ziele gesetzt, der schwerste immer noch die Angriffe des 11. September 2001.

Dieser Terror hatte auch Europa getroffen; 191 Menschen starben im März 2004 bei simultanen Attacken auf Züge in Madrid, 52 Menschen im Jahr darauf durch Bomben in der Londoner U-Bahn. Al-Qaida stand für Angriffe auf den "fernen Feind", also vor allem die USA. Entwickelt hatte die Ideologie des globalen Dschihad Osama bin Laden.

Der weltweite Dschihad wurde bislang vor allem al-Qaida zugerechnet

Der IS schien sich darauf zu konzentrieren, die Gebiete seines selbst ausgerufenen Kalifats zu mehren und zu beherrschen. Der Emir selbst, Abu Bakr al-Bagdadi, hatte im April 2013 den Kampf gegen das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad als Ziel ausgegeben, als er und die von ihm geführte al-Qaida in Irak mit der Zentrale des Terrornetzwerks und mit Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Zawahiri brachen, um forthin als Islamischer Staat in Irak und Großsyrien (ISIS) aufzutreten.

Dschihadisten in Europa

Gefährliche Einwohner: Dschihadisten in Europa

(Foto: SZ-Grafik)

Wenn sich Attentäter wie bei dem Angriff auf einen jüdischen Supermarkt im Januar in Paris auf den IS beriefen, zollten ihnen die Dschihadisten Beifall. Der IS war aber allenfalls Inspirator, nicht Organisator oder Befehlsgeber solcher Attacken von radikalisierten Einzeltätern.

Nun legt eine Serie von Anschlägen aus den vergangenen Wochen nahe, dass der IS zum einen versucht, den Krieg in die Länder zu tragen, die in Syrien und Irak gegen ihn kämpfen. Zum anderen will er offenbar seine Reichweite vergrößern und "Soldaten des Kalifats" in westeuropäische Staaten und auch nach Russland schicken.

Der IS würde sich damit wandeln zu einem Hybrid aus paramilitärischen Milizen, die in Ländern des Nahen Ostens kämpfen, und einer überregionalen, wenn nicht weltweit agierenden Organisation, die sich Terrortaktiken und loser Zellenstrukturen bedient, wie man sie von al-Qaida kennt.

Verwunderlich wäre das kaum, da viele Kader der Gruppe bis zum Schisma der Dschihadisten selber Al-Qaida-Leute waren. Etliche Analysten warnten daher schon seit Längerem, es sei naives Wunschdenken zu glauben, man könne den IS und seine Aktivitäten auf Syrien und Irak begrenzen. Allerdings gerät die Miliz durch Offensiven ihrer Gegner derzeit in ihren Kerngebieten militärisch unter Druck.

Die Türkei gab ihre ambivalente Haltung gegenüber Dschihadisten auf

Islamischer Staat

Junge IS-Kämpfer der Gruppe "Lion Cubs" in einem Ausbildungslager in Tal Afar, nahe Mossul, im Norden des Irak.

(Foto: AP)

Erste Hinweise auf eine neue Orientierung des IS wurden in der Türkei sichtbar, in Diyarbakır, Suruç und Ankara. Dort trafen die Attentate vom Juni 2015 an vor allem Kurden. Sowohl in Irak als auch in Syrien kämpfen sie am erfolgreichsten gegen den Islamischen Staat.

Die syrische Grenzstadt Kobanê wurde Symbol dafür. Monatelang konnten sie die Stadt gegen in Zahl und Bewaffnung überlegene Kämpfer des IS halten und die Dschihadisten dann mithilfe massiver amerikanischer Luftangriffe aus der Gegend jagen.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung hatten zudem ihre lange ambivalente Haltung den Dschihadisten gegenüber aufgegeben und begonnen, aktiv gegen sie vorzugehen.

Im Juli einigte sich Ankara im Grundsatz mit den USA, eine Schutzzone auf syrischem Territorium zu errichten - auf IS-Gebiet. Der IS hat sich zu den Angriffen nicht bekannt, türkische Sicherheitsbehörden wollen die Täter aber identifiziert haben - sie wurden demnach offenbar beim IS in Syrien ausgebildet.

In Beirut sprengten sich am vergangenen Donnerstag zwei Selbstmordattentäter in einem von der schiitischen Hisbollah-Miliz kontrollierten Viertel in die Luft; mindesten 44 Menschen starben. Der IS erklärte sich verantwortlich.

"Kalifat" beansprucht libanesisches Gebiet

Auch hier ist ein ähnliches Muster erkennbar. Die Hisbollah kämpft in Syrien, unterstützt von Militärberatern der iranischen Revolutionsgarden, an der Seite des Regimes. Es war der erste Angriff in den südlichen Vierteln der libanesischen Hauptstadt seit Juni 2014.

Bei der Türkei und Libanon handelt es sich um Nachbarländer Syriens, von denen zumindest Libanon noch klar zu jenem Gebiet gehört, das das Kalifat beansprucht.

Anders ist dies beim Absturz von Flug Kogalymavia 9268 über der Sinai-Halbinsel. Westliche Geheimdienste sind sich weitgehend sicher, dass eine Bombe das Flugzeug mit 224 Menschen an Bord zum Absturz brachte - und dass sie im ägyptischen Ferienort Scharm el-Scheich gezielt in den Gepäckraum einer russischen Maschine geschmuggelt worden war. Russlands Präsident Putin hatte zuvor in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen - offiziell, um gegen den "Islamischen Staat" zu kämpfen.

Mit "Ozeanen voller Blut" droht der IS Russland

Die Dschihadisten erklärten sich inzwischen insgesamt viermal für den Absturz verantwortlich und bezeichneten ihn als Vergeltung für die russische Militäroperation in Syrien, auch wenn diese sich bislang überwiegend gegen Rebellengruppen richtete, die gegen das Regime von Baschar al-Assad kämpfen und der IS an manchen Orten sogar von dem Bombardement profitierte.

Mithilfe der Luftangriffe konnte die Regierungsarmee zuletzt aber einen vom IS eingekreisten Luftwaffenstützpunkt bei Aleppo freikämpfen. In einer auf Russisch aufgenommenen Videobotschaft vom Donnerstag droht der IS Moskau "sehr bald" mit Anschlägen im eigenen Land, es würden "Ozeane von Blut" vergossen werden.

Ähnliche Drohungen hatte es mindestens seit September 2014 auch gegen westliche Länder gegeben. Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher des IS, rief in einer Reihe von Erklärungen zum Mord an Amerikanern und Europäern - speziell Franzosen - auf und dazu, "die Kreuzfahrer in ihren Heimatländern zu attackieren, wo immer ihr sie finden könnt".

Auch Deutschland rechnen die Dschihadisten zu diesen Ländern, wie aus der Bekennererklärung für die Anschläge in Paris hervorgeht.

Neu ist zum einen die Dimension der Gewalt, aber auch das hochgradig koordinierte Vorgehen verschiedener Gruppen an mehreren Schauplätzen, das aller Wahrscheinlichkeit nach über einen längeren Zeitraum zentral geplant worden ist. Dafür spricht auch, dass alle Attentäter Westen mit demselben Sprengstoff TAPT trugen.

Als Muster für die Attacke kann am ehesten eine Serie von Anschlägen mit mehr als 160 Toten gelten, die zehn Extremisten der pakistanischen Laschkar-e-Taiba 2008 in der indischen Stadt Mumbai verübten.

Indizien sprechen für enge Verbindungen zwischen Attentätern und IS

Es ist zu früh, um Genaues über die Verbindungen der mindestens sieben Pariser Attentäter zum Kern des "Islamischen Staates" zu sagen. Die ersten Indizien aber sprechen dafür, dass sie weitaus enger sind als etwa bei den Attacken im Januar in Paris.

Offenbar haben die Geheimdienste vor den Anschlägen Kommunikation zwischen den Attentätern und bekannten Mitgliedern des IS in Syrien abgefangen.

Mindestens einer der identifizierten Angreifer, ein Franzose algerischer Herkunft, soll laut Le Monde zwischen Herbst 2013 und Frühjahr 2014 nach Syrien gereist sein. Ein anderer trug laut den Behörden einen - womöglich gefälschten - syrischen Pass bei sich. Mit diesem ist offenbar ein Mann von der Türkei aus über die Balkanroute nach Westeuropa gereist.

Ob das der Attentäter selbst war oder jemand anderes oder ob der IS bewusst eine falsche Spur legen will, all das ist unklar. Jedoch hatten die Dschihadisten erst im Sommer gedroht, dass sich ihre Kämpfer unter die Flüchtlinge mischen würden, die auf diesem Weg nach Europa gelangen.

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