Die Befreiung in Norwegen:Tage der Rache

Lilian Crott, gebürtige Norwegerin, erlebte das Kriegsende in ihrer Heimat mit gemischten Gefühlen: Die Vergeltungsakte an Kollaborateuren verstörten sie zutiefst - bei aller Freude über die Freiheit.

8. Mai 1945: Es ist früher Vormittag. Vor zwei Stunden hörten wir von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Der norwegische Rundfunk (Norsk Rikskringkasting) ist wieder eröffnet und sendet ständig neue Meldungen. Die Rundfunkgeräte sind wieder ausgeliefert (sie waren die ganzen Kriegsjahre beschlagnahmt, nur NS-Mitglieder durften sie behalten). Wir lauschen gespannt. Die Rede Präsident Trumans an Europa wird übertragen. Der letzte Akt der Tragödie ist beendet. Es ist Friede!

Ich erlebe diesen historischen Tag in einer Stadt in Westnorwegen. Ja, es ist Friede! Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Ist das letzte Blut vergossen oder kommt es in den verschiedenen okkupierten Ländern zu internen Abrechnungen? Man jubelt, weil der Krieg zu Ende ist, aber dieser Jubel ist mit Traurigkeit gemischt. Die Gedanken gehen zu denen, die ihre Lieben verloren haben, Eltern ohne Kinder, Kinder ohne Eltern. Millionen Häuser liegen in Schutt und Asche, Millionen Menschen auf der Flucht. Europa blutet aus Wunden, die nie geheilt werden können.

Massenverhaftungen von NS-Leuten. Einige beenden selber ihr Leben. Sie haben Angst vor Repressalien. Neue Meldungen im Radio: Einige von Hitlers engsten Kampfgenossen haben sich erschossen oder vergiftet. Himmler soll sich mit einigen seiner treuesten SS-Leute in den bayerischen Alpen verschanzt haben. Russische Soldaten haben Reste von vier Leichen an der Reichskanzlei in Berlin gefunden, eine kann Hitler sein. Alle Kinder von Goebbels liegen im Bunker unter der Reichskanzlei - vergiftet.

Es ist Abend. Tausende Menschen sammeln sich am Marktplatz. Die Flaggen wehen, Musikkorps spielen, es wird gesungen und getanzt, es ist , als ob alle einander kennen, ja, es ist, als ob jeder Einzelne den Krieg gewonnen hat. Einige sind betrunken. Heute Abend ist es erlaubt.

9. und 10. Mai: Ständig neue Meldungen, u.a. dass die deutschen Truppen sich aus Sörreisa und Harstad (zwischen Tromsö und Narvik) und Drammen (am Oslofjord) zurückziehen müssen. Weitere Berichte aus dem Radio: Eine breite Blutspur zieht sich von Süd nach Nord, von Ost nach West. Das deutsche Reich und das deutsche Volk sind vollständig zerschlagen.

Zwei Busse fahren in den Straßen umher, sie holen NS-Mitglieder zu Hause ab. Ich komme vorbei und werde Augenzeuge. Schaulustige haben sich versammelt. Mit gehobenen Händen werden die Verhafteten mit Häme und Spott überschüttet, einige werden bespuckt, einige geschlagen. Die Polizei versucht es zu verhindern, es misslingt. Zwei junge Mädchen werden an den Haaren gezogen. Es tut weh, es mitanzusehen. Müssen diese Norweger als so genannte "gute Norweger" (Jössinger) sich so benehmen? Sie machen ja jetzt dasselbe wie die SS-Horden.

Ich stehe vor dem Haus eines Kaufmanns. Er und seine Frau sind abgeholt. Aus einem offenen Fenster höre ich Kinder weinen. Ganz spontan schelle ich. Niemand öffnet. Mitten in all der Freude Verzweiflung und Rache.

Die Einwohner der Stadt werden gebeten, die norwegischen Gefangenen, die mit den weißen Bussen aus Deutschland erwartet werden, gut zu empfangen. Auch die Befreiten aus Grini (Gefangenenlager bei Oslo). Alle werden mit Blumen und Hurra-Rufen begrüßt. Musikkorps spielen, ein Männerchor singt. Für die Gefangenen werden Reden gehalten, einige weinen, sie sehen sehr mitgenommen aus. Unter den Befreiten ist auch ein Russe. Er versucht, mit ein paar norwegischen Worten eine kleine Dankesrede zu halten. Zu seiner persönlichen Ehre wird die "Internationale" gespielt.

Die ersten Gerüchte über die schrecklichen Konzentrationslager kommen. Man kann es nicht glauben!

In den Straßen marschieren mit geschulterten Gewehren die jungen Männer von der so genannten Heimatfront. Die ersten englischen Soldaten sind plötzlich da. Sie verteilen Schokolade an die Kinder, die sie umringen. Die Soldaten sind freundlich, winken und zeigen mit zwei Fingern das Siegeszeichen.

Ständig kommen Meldungen über neue Verhaftungen. Terboven (Reichskommissar in Norwegen) hat sich erschossen, und Quisling ist verhaftet. Ich hoffe sehr, trotz allem, was an Schrecklichem in Norwegen geschehen ist, dass die Todesstrafe nicht eingeführt wird. NS-Leute werden entfernt aus allen öffentlichen Ämtern. Aber was geschieht mit den vielen, die während des Krieges sehr reich geworden sind durch Bautätigkeit von Festungsanlagen und Baracken für die Okkupationsmacht durch fünf lange Kriegsjahre?

Es ist viel Freude und auch viel Verwirrung in Norwegen in diesen hektischen Maitagen 1945. Der König und der Kronprinz werden aus Amerika erwartet, und das norwegische Volk bereitet sich auf das größte 17.-Mai-Fest vor (norwegischer Nationaltag).

Lillian Crott, Mülheim an der Ruhr

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: