Die Affäre Wulff und die Öffentlichkeit:Über den Bundespräsidenten urteilen 80 Millionen

In den vergangenen Wochen war fast jeder Tag ein Verhandlungstag in der Causa Wulff. Die Medien und die Gesellschaft inszenierten das Jüngste Gericht - ohne einen zornigen Gott. Wir haben einfach seine Stelle übernommen. Aber wir spielen ihn schlecht.

Petra Bahr

Ist er blass genug, um ihm die Zerknirschung zu glauben? Zeigt sich in seinen geröteten Augen genug Tränenflüssigkeit? Ist die Buße aufrichtig? Ein Präsident sitzt auf der medialen Sündenbank, und ein ganzes Volk sitzt zu Gericht. Er heißt Bill Clinton, und zur Verhandlung steht seine Affäre mit der Praktikantin im Weißen Haus, Monica Lewinsky.

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Christian Wulff und seine Frau Bettina: Wer die vergangenen Wochen Revue passieren lässt, in dem fast jeder Tag ein Verhandlungstag in der Causa Wulff gewesen ist, kann sehen, was passiert, wenn wir das Jüngste Gericht selbst aufführen.

(Foto: dapd)

Die deutsche Gesellschaft guckte damals, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, irritiert bis angewidert über den großen Teich. Die Mischung aus Puritanismus und medialer Schlammschlacht, aus moralischer Empörung und politischem Kalkül stieß auf Unverständnis.

Ob das auch künftig so bleibt? Je mehr leidenschaftliche Küsse und knappe Abendkleider mit politischen Ämtern in Verbindung gebracht werden, je größer die Sehnsucht nach Glamourpaaren mit Amt und Mandat wird, die den königlichen Liebespaaren in den europäischen Nachbarländern das Wasser reichen können, desto gefährdeter ist dieser Comment.

Doch dass ein deutscher Spitzenpolitiker vor viertausend Pastoren und laufenden Kameras nicht nur die eigene Frau, sondern auch das ganze Volk wegen einer ehelichen Verfehlung um Vergebung bittet, wie das Clinton schließlich tat, ist auch heute noch unvorstellbar. Die Amerikaner seien nur unvollkommen säkularisiert und inszenierten den Umgang mit Fehltritten als Jüngstes Gericht auf Erden, hieß es bei den Kommentatoren während der Clinton-Affäre naserümpfend.

Das Jüngste Gericht? In der Tat können hierzulande die wenigsten noch etwas mit dem Gedanken des Gerichts anfangen. Gott als Weltenrichter gibt es im Museum, als Drohkulisse mittelalterlicher Kunst oder auf der CD, wenn bei einer langen Autofahrt das "Dies Irae" aus den Lautsprechern donnert - der Tag des Zorns als Szene einer vergangenen Glaubenskultur.

Selbst jene, die das Glaubensbekenntnis noch einigermaßen sicher sprechen, stolpern über den Satz "Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten" hinweg. Der Jüngste Tag ist Geschichte. Gut so, könnte man meinen. Haben nicht Generationen von Geistlichen den Menschen mit einem göttlichen Richter gedroht, der nicht Heil und Segen, sondern Heulen und Zähneklappern bringt? Auf der Liste missbrauchter theologischer Lehrstücke steht das Jüngste Gericht ziemlich weit oben.

Doch die säkularen Reste verdrängter Glaubenssätze sind manchmal mindestens so furchtbar wie das falsch verstandene christliche Erbe. Wer die vergangenen Wochen Revue passieren lässt, in dem fast jeder Tag ein Verhandlungstag in der Causa Wulff gewesen ist, kann sehen, was passiert, wenn wir das Jüngste Gericht selbst aufführen. Die Tribunalisierung unserer Gesellschaft erzeugt eine Paranoia eigener Art, ganz ohne einen zornigen Gott. Wir haben einfach seine Stelle übernommen. Aber wir spielen ihn schlecht.

Es wird mit Maske über dem Gesicht demaskiert

Es gibt einen unheimlichen Zusammenhang zwischen der medialen Jagd nach immer neuen Einzelheiten der Verfehlungen während der Amtszeit von Christian Wulff als Ministerpräsident und den Selbstabschottungsstrategien des Staatsoberhaupts und seiner Berater. Unheimlich ist die Gleichzeitigkeit: Falsche Scham und verblüffende Schamlosigkeit verbinden sich bei Klägern wie bei Beklagten. Die Beichte im Berliner Fernsehstudio wurde mit ähnlichem richterlichen Blick seziert wie weiland der Gesichtsfaltenwurf von Bill Clinton. Die sprachlichen Rechtfertigungsstrategien des "Ich entschuldige mich" und das Versteckspiel hinter dem anonymen "man", deuten allerdings darauf hin, dass die Inszenierung der perfekten Bußübung noch weiterer Proben bedarf.

Noch besser wäre allerdings die Abschaffung öffentlicher Bußübungen. Das, was sich in den letzten Wochen zeigt, ist nur das traurige Exempel für eine Falle, in die wir in der Mediendemokratie getappt sind. Wir wollen ein Höchstmaß an Authentizität, die nur durch Bilder vermittelt wird. Entscheidend ist, was wir sehen. Im Handeln jenseits der Inszenierung hingegen schotten sich die gesellschaftlichen Eliten immer mehr ab, entziehen sich der öffentlichen Blicke und überziehen sich mit einer Teflonschicht, an der jedes Urteil und jede Kritik abzuperlen scheinen.

Die Medien, ihre Konsumentinnen und Konsumenten, stoßen sich an dieser Wand die Nase blutig und skandalisieren, was das Zeug hält. Sie erzeugen so ein Rauschen, in dem immer schwerer unterschieden werden kann, was eine für die politische Kultur entscheidende Information ist, und was zu der Häme zählt, die entsteht, wenn die ins Maßlose gesteigerte Erwartung an die moralische Makellosigkeit hoher Amtsträger nicht befriedigt wird.

Das führt zum Zustand der Dauererregung. Wie jedes anständige Fieber flaut sie nach einiger Zeit wieder ab, irgendwann ist der nervöse Anfall vergessen, neue Skandale erhitzen die Gemüter. Wer den Verlauf dieser Infekte kennt, hat allen Grund, einfach abzuwarten. Hier Medienschelte zu üben, wie das nun auch populär geworden ist, ist aber genauso bigott. Denn wer über die entfesselte vierte Gewalt im Staate lamentiert, sollte einmal die selbstberufenen Leitartikler in den Internetforen und Blogs besuchen. Die Grenze zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung ist längst durchlässig. Die digitale Öffentlichkeit offenbart ein Maß an sprachlicher Brutalität, das nur mit der Anonymität des Netzes zu erklären ist: Es wird mit Maske über dem Gesicht demaskiert.

Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel hat einmal gesagt, das Jüngste Gericht sei eine Gnade. Der christliche Gott will in diesem Gericht nicht demaskieren, beschämen oder um jeden Preis gewinnen. Er will ins rechte Licht setzen. Das Jüngste Gericht relativiert die menschlichen Urteile - sie fallen unter dem Vorbehalt des letzten Urteils. Der Zynismus des Richtervolks, das sich irgendwann genervt neuen Ärgernissen zuwendet, hat dort so wenig Platz wie der Zynismus der Mächtigen.

Die in verantwortlicher Position handeln, müssen - und dürfen - sich vor einem Richter verantworten, der weder eine Mailbox hat, noch an der Vernichtung von Karrieren interessiert ist. Selbstbegnadigung ist dann ebenso töricht wie die höchstrichterliche Amtsanmaßung einer gnadenlosen Öffentlichkeit. Und die so lässig letzte Urteile sprechen, müssen ihre Worte wieder abwägen und sich fragen, was hinter der Lust am Fall anderer steckt. Lassen wir Gott das letzte Gericht. Dann kriegen vielleicht auch die öffentlichen Prozesse wieder ein anderes Augenmaß.

Petra Bahr, 45, Theologin und Autorin, ist Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

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