Deutschtürken:Auflehnung gegen Ablehnung

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Die Deutschtürken haben weniger für die neue Verfassung gestimmt, sondern mit ihrem Votum gegen ein Deutschland protestiert, von dem sie sich abgelehnt fühlen. Dabei hätten sie sich dem Erdoğan-Vorhaben klar entgegenstellen können.

Kommentar von Gökalp Babayiğit

Zahlreiche Türken in Deutschland fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Sie fühlen sich benachteiligt bei der Arbeits- und Wohnungssuche und schikaniert bei der Ausübung ihrer Religion. Recep Tayyip Erdoğan sprach daher aus, was sich viele Türken hierzulande insgeheim seit jeher dachten. Immer wieder prangerte er in den Wochen und Monaten vor dem Referendum zur Verfassungsreform die Ungleichbehandlung seiner Landsleute an.

Immer lauter, heftiger und agitatorischer wurden dann seine Vorwürfe gegen Deutschland, das (wie bei den Wahlkampfauftritten türkischer Politiker) die Meinungsfreiheit zu Ungunsten der Türkei einschränke und die Türken mit Nazi-Methoden unterdrücke.

Bei mindestens 412 000 Wahlberechtigten zwischen Hamburg und München traf der Präsident damit einen Nerv. Sie haben für die Verfassungsreform gestimmt. Aber in Wahrheit haben sie nicht für die autokratische Verfassung in der Türkei gestimmt, sondern gegen Zustände in Deutschland protestiert.

Sie sagten Ja zu einem machtpolitischen Vorhaben, das sie kaum betreffen wird, und verstanden ihr Ja als Auflehnung gegen ein Deutschland, von dem sie sich abgelehnt oder gegängelt fühlen. Das Ergebnis ist so eindeutig wie empörend: Mehr als 63 Prozent derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, votierten im demokratischen Deutschland für die demokratiezersetzende Verfassungsreform in der Türkei.

Das Problem in Deutschland war die niedrige Wahlbeteiligung

Die unterkühlte Reaktion der Bundesregierung, die weder auf die Provokationen vor noch auf das Ergebnis nach der Wahl besonders emotional reagierte, ist wohltuend. Aber Überlegungen aus der Union, als Reaktion auf dieses Ergebnis etwa die Erleichterungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft wieder rückgängig zu machen, gehen in die exakt falsche Richtung.

Wenn Erdoğan Gesetze in Deutschland auf den Weg bringen könnte, würde er auf diese und ähnliche Ideen kommen, um die türkische Diaspora noch enger an sich zu binden und den Keil noch tiefer zwischen deutsche Gesellschaft und türkischstämmige Minderheit zu treiben.

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In den sozialen Medien tobt die Debatte darüber, wer nun Schuld am klaren Abstimmungsergebnis im Wahlbezirk Deutschland habe. Diese Debatte ist unsinnig. Versuche, die Verantwortung weg von den Stimmberechtigten und hin zur deutschen Politik, den Medien oder zur Mehrheitsgesellschaft zu schieben, sind falsch. Die Empörung der Opposition in Istanbul, Izmir und Ankara über das eindeutige Ja bei den Türken in Düsseldorf, Stuttgart und Frankfurt ist berechtigt. Und die Frage, wieso so viele Türken hierzulande für die Reform votiert haben, greift zu kurz. Die eigentliche Frage muss lauten: Wieso hat die Mehrheit der wahlberechtigten Türken in Deutschland überhaupt nicht abgestimmt?

Die Türkischstämmigen in Deutschland sind keine homogene Masse

Während die Wahlbeteiligung in der Türkei mehr als 80 Prozent betrug, gingen in Deutschland nur 46 Prozent der 1,43 Millionen Wahlberechtigten zur Wahl. Bei allen integrationspolitischen Bemühungen, die in vielen Bereichen ja Früchte getragen haben, ist vernachlässigt worden, wie bedeutend für die Demokratie die Beteiligung an Politik ist - egal ob man direkt von ihr betroffen ist oder nicht.

Auch unter eingebürgerten Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund, die tendenziell als besser integriert gelten, ist die Wahlbeteiligung an Abstimmungen in Deutschland niedriger als im Durchschnitt. Es wurde über Jahrzehnte in Deutschland stets Politik für (oder gegen) die Türken gemacht, zu selten mit ihnen.

Rückschlüsse auf den Stand der Integration lässt das Abstimmungsergebnis in Deutschland nun nicht unbedingt zu. Die knapp drei Millionen Türkischstämmigen in Deutschland sind keine homogene Masse, die nur einer politischen Richtung folgt. Unter ihnen sind nicht nur türkische Staatsbürger mit unbefristetem Aufenthaltsrecht, sondern auch Hunderttausende nur mit deutschem Pass und Hunderttausende Doppelstaatler mit beiden Pässen. Sie sind genauso gespalten wie die Bevölkerung in der Türkei. Genauso wie dort sind es auch hier die AKP-Anhänger, die am meisten Lärm machen.

Zu oft war zu hören: Diese Türken brauchen wir nicht, sie sollen zurück in ihre Heimat gehen. Der Denkfehler in diesem Satz ist schier nicht totzukriegen. Indes: Die Heimat der meisten dieser Menschen ist Deutschland. Sie werden hier gebraucht: als aufgeklärte Mitbürger, die die Vorzüge der Demokratie und der politischen Teilhabe verstehen; sie hätten dem Erdoğan-Vorhaben ein klares Zeichen der Ablehnung entgegenstellen können. Das Ergebnis und das Signal aus Deutschland wäre ein anderes gewesen, hätten sich mehr Menschen an der Abstimmung beteiligt.

© SZ vom 19.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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