Deutschland:Zeit der Zugeständnisse

Seitdem Präsident Erdoğan den Konflikt mit den Kurden befeuerte, sah ihn die Bundesregierung noch kritischer als zuvor. Nun aber führt an ihm kein Weg mehr vorbei. Seine Forderungen verlangen vor allem CDU und CSU viel ab.

Von Cerstin Gammelin, Luisa Seeling und Stefan Braun

Der Regierungssprecher in Berlin hätte es am Montag am liebsten getrennt behandelt: Hier das Wahlergebnis aus Ankara und dort die bevorstehenden Verhandlungen mit der türkischen Regierung in der Flüchtlingskrise. Ganz so, als gäbe es keine Zusammenhänge. Also sagte Steffen Seibert, wie schön er es finde, dass alles friedlich verlaufen sei. Das passte zwar nicht ganz zu den Krawallen in einzelnen Städten. Aber es war die Botschaft, die er erst mal transportieren wollte. Außerdem, so Seibert weiter, zeige die hohe Beteiligung, dass sehr viele Menschen Anteil nehmen würden an den Herausforderungen, vor denen die Türkei stehe. Seine Kollegin vom Auswärtigen Amt, Sawsan Chebli, ergänzte, man respektiere den Wählerwillen und hoffe nun, dass es "schnell Fortschritte in der Zusammenarbeit" geben werde.

Schöne Worte sind das, die freilich nur die halbe Geschichte erzählen. Richtig ist, dass Berlin die absolute AKP-Mehrheit einerseits gelegen kommt, sie aber andererseits noch bitter aufstoßen dürfte. Gelegen kommt sie, weil nun Klarheit herrscht, wer in Ankara unterhalb des Präsidenten die Ansprechpartner sein werden. Das spart Zeit in einem Moment, in dem die Bundesregierung in der Flüchtlingskrise dringend Erfolge erzielen will.

Man sieht Erdoğan nach wie vor mit Skepsis

Gleichzeitig ist die Skepsis geblieben, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach der vorangehenden Parlamentswahl im Juni hervorrief. Damals befeuerte er erst den Konflikt mit den Kurden, dann kündigte er Neuwahlen an. Gewachsen ist allerdings Berlins Bedürfnis, mit Erdoğan enger zusammenzuarbeiten. Zu groß ist die Sorge, dass der Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten nicht abreißt; zu groß auch ist die Rolle der Türkei als Transitland für die Flüchtlinge.

Damit werden CDU und CSU unausweichlich das angehen müssen, was sie bis heute vermeiden wollen: Sie werden dem Land erhebliche politische Zugeständnisse machen müssen. CDU, CSU und vorneweg die Kanzlerin persönlich hielten die EU-Beitrittsgespräche für ein Ritual, an dessen Ende zwar dieses und jenes, aber auf keinen Fall ein tatsächlicher Beitritt stehen sollte. Darauf werden sich Erdoğan und seine AKP jetzt nicht mehr einlassen. Schon seine Forderung, künftig an EU-Gipfeln teilnehmen zu können, zeigt, wie sehr er genau an der Stelle Interessen hat, an der es Merkel besonders weh tut.

Gleichwohl wird die Kanzlerin dies wohl akzeptieren müssen. Über die türkisch-griechische Ägäis kommen derzeit die meisten Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Und wenn Merkel auch in Zukunft keinen Zaun an Europas Südgrenze errichten möchte, braucht sie mehr denn je Ankaras Kooperationsbereitschaft. Schon jetzt zeigen sich CDU und CSU offen für die nächsten beiden Kapitel in den Beitrittsverhandlungen, für Visa-Erleichterungen und für feste Flüchtlingskontingente, die die EU aus der Türkei übernehmen könnte.

Vielen türkischen Wählern in Deutschland dürfte das gefallen. Unter ihnen schnitt die AKP sehr gut ab. Fast 60 Prozent entfielen auf Erdoğans Partei, zehn Prozent mehr als in der Türkei. Zweitstärkste Partei wurde die prokurdische HDP mit fast 16 Prozent. In der Nacht kam es vereinzelt zu Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden. In Stuttgart warfen Vermummte Steine, die Polizei nahm elf Anhänger verschiedener Parteien fest. Die Hälfte der 2,9 Millionen wahlberechtigten Türken im Ausland lebt in Deutschland.

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