Kampf ums Geld:Die Angst der Mitte

Vieles hat die Mittelschicht in der Krise weggesteckt. Doch jetzt geht die Angst um. Das ist gefährlich: Die Mittelschicht wird zwar nicht den Aufstand proben, aber sie hat eigene, zerstörerische Methoden, um sich zu wehren.

Marc Beise

Bin ich's? Der erste Gedanke gilt unwillkürlich der eigenen Person. Die Forscher melden, die Mittelschicht sei in Not, und die Frage lautet: Sind das noch die anderen, oder ist man das schon selbst? Und offensichtlich sehen sich immer mehr Deutsche, die bisher in der Mitte der Gesellschaft Sicherheit spürten, selbst im Fadenkreuz der Krise. Das ist neu. Vieles hat diese Mitte bisher weggesteckt: die große Finanzkrise 2008, die sich daraus entwickelnde Krise der Realwirtschaft 2009 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um fünf Prozent, die Krise der Banken und die der Griechen; stets blieb die allgemeine Stimmung besser als die Lage. Mit der Euro-Krise wandelt sich das Bild, jetzt geht die Angst um, die Angst ums eigene Geld. Fragen werden gestellt, die für manche bereits Feststellungen sind. Was ist, wenn der Euro schlapp macht, die Inflation grassiert, eine Währungsreform zum Neuanfang zwingt? Horrorszenarien, für die es keine realen Anzeichen gibt. Aber es reicht für Geraune, das Angst macht.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in dieser Woche neue Zahlen über das Schrumpfen der Mittelschicht geliefert. Sie waren in der Tendenz nicht neu, und auch das DIW verbreitet sie seit Jahren - trotzdem erregten sie hohe Aufmerksamkeit; diese Resonanz ist das eigentlich Interessante. Es zeigt eine Unruhe in der Mitte der Gesellschaft, schwer fassbar, aber unzweifelhaft vorhanden.

Die DIW-Studie ist angreifbar. Sie macht aus relativ leichten Verschiebungen der Einkommensverhältnisse eine große Sache. Sie definiert "Mittelschicht" sehr eng. Wenn man das Durchschnittseinkommen aller Deutschen zum Maßstab nimmt und dann den Korridor von 70 bis 150 Prozent als "Mittelschicht" definiert, kommt man zu kuriosen Ergebnissen. Es wäre schon der unverheiratete Facharbeiter Oberschicht, der Lehrer, der Krankenhausarzt. Das wäre Unsinn, wie schon die allgemeine Wahrnehmung zeigt.

Richtiger ist eine breitere, in der Soziologie gebräuchliche Definition der Mittelschicht, die qualitativ zuordnet. Mittelschicht, das sind danach Menschen mit guter Ausbildung und Expertenstatus, sei es als Facharbeiter und im akademischen Betrieb, häufig kreativ oder selbstständig tätig, mit Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft und einem im weiteren Sinne ,,bürgerlichen'' Wertehorizont. Eine Gruppe, die eben nicht statisch genau auf der Grundlage von Euro und Cent zu definieren ist. Jene Menschen, die so viel verdienen, dass sie nicht jeden Euro umdrehen müssen. Aber nicht so viel, dass ihnen jede Steuer- und Abgabenerhöhung egal sein kann; es wird etwa die Hälfte der Gesellschaft sein.

Angst vor dem Abstieg

Diese Mittelschicht schrumpft, da liegt das DIW richtig. Sie franst an ihren unteren Rändern aus. Auch die, die noch einigermaßen weit davon entfernt sind, verlieren ihre Gewissheit. Auch wenn die Zahl der Akademiker unter den Hartz- IV-Empfängern überschaubar ist, fürchten doch immer mehr, bald dazuzugehören. Und umgekehrt, sagen die Soziologen, schwindet der Anreiz, aufsteigen zu wollen. Es ist nicht mehr so attraktiv, zur Mittelschicht zu gehören, weil deren Wohlstandsmodell an seine Grenzen gekommen ist. Sich gut ausbilden zu lassen, sparsam zu sein, ist nicht mehr die Gewissheit dafür, bald Auto, Haus und gutes Auskommen für alle Zeit zu haben.

Für diese Situation gibt es viele Gründe. Natürlich spielt die Veränderung der Welt eine Rolle. Den deutschen Wohlstand mit Hilfe von weniger entwickelten Gesellschaften zu mehren, wie dies in Zeiten des Wirtschaftswunders via Exportindustrie geschah, ist immer schwieriger, weil die anderen aufholen. Auch gesellschaftliche Umbrüche wirken sich aus. Wo Familien auseinander brechen oder gar nicht erst zusammenfinden, hat es jeder Einzelne schwer. Alleinerziehende Mütter haben das größte Armutsrisiko, selbst wenn sie gut ausgebildet sind.

Die Deutschen und die Revolution

Die Hauptverantwortung für zusätzliche Belastungen kommt dem Staat zu. Nicht wegen des aktuellen Sparpakets der Bundesregierung, auch hier springt die DIW-Studie zu kurz. Seit Jahrzehnten verstärkt der Gesetzgeber den Zugriff, bei Steuern und Abgaben, parteiübergreifend. Der Sozialstaat braucht Geld, und er holt es sich in der Mitte der Gesellschaft, dort, wo am meisten zu holen ist. Das fiel lange kaum auf, weil gleichzeitig jede Menge Vergünstigungen gerade der Mittelschicht zugute kamen: Arbeitszimmer, Werbungskosten, Eigenheimzulage, Familienleistungen. Nun werden sie nach und nach einkassiert. Früher hieß es: Steuervergünstigungen werden gestrichen, im Gegenzug die Steuersätze gesenkt; das ist lange vorbei.

Klagen auf hohem Niveau

Noch immer, das muss man sagen, klagt die Mittelschicht auf hohem Niveau. Wie fast überall in der Gesellschaft hat sich Anspruchsdenken entwickelt. Wo früher der Vater die Familie einmal im Jahr zum Essen ausführte, muss es heute der wöchentliche Italiener sein. Wo früher drei Wochen an der Nordsee reichten, muss heute auch der Winterurlaub drin sein. Auch an die staatliche Versorgung hat man sich gerne gewöhnt.

Aber die Schwächung der Mitte ist eine Gefahr, politisch und wirtschaftlich. In der Geschichte haben sich häufig diejenigen Gesellschaften als stabil erwiesen, die eine gesunde Mittelschicht haben. Wer in sich ruht und sich gerecht behandelt fühlt, rebelliert nicht, er sucht keine Feindbilder; auch das war bisher eine Stärke der deutschen Gesellschaft. Aus der Mitte der Gesellschaft kommt wirtschaftliche Dynamik; hier finden sich die meisten Leistungsträger, von der Krankenschwester über den Handwerker bis zum Freiberufler. Sie bringen sich ein, übernehmen Verantwortung. Sie erfinden, gründen, organisieren. Sie tun das so lange, wie sie den Eindruck haben, dass ihre Arbeit honoriert wird.

Wenn es sich nicht mehr lohnt, wird die Mittelschicht nicht rebellieren, das hat sie nie getan. Die Deutschen, hat Lenin gespottet, kriegen keine Revolution hin, weil sie, wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, erst eine Bahnsteigkarte kaufen. Die Mittelschicht würde gar nicht erst zum Bahnhof gehen, sondern zu Hause vor sich hin leiden. Aber sie hat ihre eigenen, die Gemeinschaft zerstörenden Methoden, sich zu wehren. Sie wendet sich von der Politik ab, sie geht nicht mehr wählen, sie engagiert sich nicht mehr in Parteien und Organisationen. Sie arbeitet schwarz, betrügt den Fiskus, und ihre Kinder wandern aus.

Die Politik kann es sich deshalb nicht leisten, diese Entwicklung zu ignorieren. Sie darf schon gar nicht dieser Mittelschicht weitere Lasten auferlegen nach dem Motto: ,,Starke Schultern tragen mehr.'' Sie muss im Gegenteil ein Programm entwickeln, vor allem, um die Mitte zu entlasten. Bisher hat die Koalition sich aufs Sparen konzentriert, aber das kann nur ein erster Schritt sein. Der Staat muss seine Einnahmen umdirigieren, er muss gezielt in die Stärkung der Mittelschicht investieren als jener Gruppe der Gesellschaft, aus der heraus neues Wachstum entstehen kann.

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