Deutscher Pressekodex:Wann Schweigen geboten ist

Deutscher Pressekodex: undefined
(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Viele glauben, dass die Medien nach den sexuellen Übergriffen von Köln zu lange die Nationalität von Straftätern verschwiegen haben. Sind die Richtlinien des Presserats ein Maulkorb?

Von Heribert Prantl

Der Deutsche Presserat sei, so lautet neuerdings eine beißende Kritik, eine Instanz, die die Wahrheit unterdrücke. Dieser Rat, eine Organisation der Verleger- und Journalistenverbände, versuche zu verhindern, dass darüber geredet und geschrieben werde, worüber doch geredet und geschrieben werden müsse: über die Kriminalität von Ausländern, von Flüchtlingen zumal. Stimmt das? Verhindert der Presserat, dass ein Ladendieb als Asylbewerber, ein Autodieb als Pole, ein Missbraucher als Marokkaner bezeichnet wird? Verhängt der Presserat pauschale Sprachverbote?

Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Presserats, bestreitet das ganz vehement; es gebe allerdings klare publizistische Regeln, sagt er. Diese Regeln formuliert der Pressekodex; Vertuschung gehört dazu nicht. Zur Kölner Silvesternacht hat Tillmanns denn auch alsbald erklärt: "Wenn Polizei und Opfer den begründeten Eindruck haben, dass die Täter aus Nordafrika stammen, ist das ein Detail, das Medien nicht verschweigen dürfen."

Woher kommt dann die Kritik? Der Presserat achtet tatsächlich darauf, dass der Hinweis auf die Ethnie oder Religion eines Verdächtigen nicht diskriminierend eingesetzt wird. Der Presserat, der in diesem Jahr sein 60. Jubiläum feiert, ist eine freiwillige Instanz der publizistischen Selbstkontrolle. 1959 hat Henri Nannen, Verleger und Herausgeber des Stern, vergeblich dagegen geklagt, dass es da eine Instanz gibt, die auf publizistische Standards achtet, auf sorgfältige und faire journalistische Arbeit. Im Jahr 1973 wurden die Standards im Pressekodex erstmals formuliert, später ergänzt und überarbeitet.

Es geht darin um die Achtung des Berufsgeheimnisses, um Trennung von Werbung und Redaktion, um den Schutz der Persönlichkeit - und, in der Richtlinie 12.1., um den Schutz vor Diskriminierung: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug steht." Dann folgt noch ein Satz 2: "Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte." Das ist die Vorschrift, über die derzeit, nach Köln, heftig diskutiert wird.

Früher beschwerten sich Sinti und Roma jedes Jahr über Stöße von Zeitungsartikeln

Es gab Zeiten, in denen beim Presserat jedes Jahr, meist Anfang Dezember, ein Protestpaket einging; Absender war der Zentralrat deutscher Sinti und Roma, Vorsitzender Romani Rose. Im Paket befanden sich Stöße von Zeitungsartikeln samt angehängter Beschwerden; der Zentralrat rügte darin die diskriminierende Verwendung der ethnischen Herkunftsbezeichnung "Sinti und Roma". Rose hatte seinerzeit das Datum für seine Sammelbeschwerden bewusst gewählt; es war ein Gedenkdatum, der 7. Dezember. Am 7. 12. 1935 hatte NS-Reichsinnenminister Wilhelm Frick angeordnet, "in allen Fällen, in denen strafbare Handlungen von Juden begangen sind, dies auch besonders zum Ausdruck zu bringen". Fortan war im Nazi-Deutschland in Polizei- und Presseberichten über Straftaten die "Rassenzugehörigkeit" besonders herausgestellt worden. Solche rassische Diskriminierung sollte, das war das Anliegen des Zentralrats, nicht noch einmal um sich greifen.

Im Jahr 1990 befanden sich 417 Zeitungstexte im Protestpaket an den Presserat, samt dem Begehren, den Redaktionen eine Missbilligung oder Rüge gemäß den Richtlinien des Pressekodex auszusprechen. Damals gelangten dann 32 Artikel ins offizielle Beschwerdeverfahren: Es ergingen zwei öffentliche Rügen, sechs Missbilligungen und zehn Hinweise.

Es gibt keine Generalregel, vielmehr geht es um die Abwägung im Einzelfall

Besonders drastisch sind Schlagzeilen wie diese, sie standen auf einem Titelblatt: "Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz. Familienbetriebe des Verbrechens". Und auf dem Bild sah man ein Kind, das mit einer Pistole auf den Betrachter zielte, dahinter eine Müllhalde. Dieses Cover stammt von der Schweizer Weltwoche, publiziert 2012. Hier war es der Schweizer Presserat, der eine Rüge aussprach. In Deutschland sind die Klagen über solche Diskriminierungen zurückgegangen; seit zehn Jahren gibt es keine Sammelbeschwerden des Zentralrats der Sinti und Roma mehr. "Das Verhältnis zu ihm", so sagt es der Presseratsgeschäftsführer, "hat sich nach diversen Gesprächen entspannt". Es gebe heute nur noch "maximal ein halbes Dutzend individuell begründete Beschwerden pro Jahr".

Die Mahnungen des Presserats haben dazu beigetragen und die Scheu der Medien, am Pranger zu stehen. Es ist nämlich so: Bei Verstößen gegen den Pressekodex gibt es drei Stufen der Mahnung: Der Hinweis ist die schwächste Form, die Missbilligung die schärfere, die Rüge die schärfste; die Rüge muss, die Missbilligung soll in einer der nächsten Ausgaben veröffentlicht werden; das ist keine gesetzliche Verpflichtung, sondern eine Ehrenpflicht. "Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Presserat ausgesprochene öffentliche Rügen zu veröffentlichen, insbesondere in den betroffenen Publikationsorganen", so verlangt es der Pressekodex. In einigen Bundesländern hielt sich bisher auch die Polizei in ihren Polizeiberichten an die Regel des Artikels 12.1. Pressekodex; das heißt: die Religionszugehörigkeit oder Nationalität wurde nur dann genannt, wenn zur Straftat "ein begründbarer Sachbezug" bestand. Und oft wurde diese Vorschrift streng ausgelegt - also dieser Sachbezug verneint, um auf der sicheren Seite zu sein. So entstand die angebliche, aber nicht existierende Regel, im Zweifel lieber nicht zu schreiben, aus welchem Land der Verdächtige kommt.

Nach dem Pressekodex gibt es keine solche Zweifelsregel. Im März trifft sich das Plenum des Presserats, 28 Vertreter von Verleger- und Journalistenverbänden. Dann wird über die Richtlinie 12.1. geredet. Womöglich wird sie umformuliert, um ganz klarzumachen, dass es keine General- und Zweifelsregel gibt, es also wirklich um Abwägung im Einzelfall geht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: