Deutscher Linksterrorismus:Die RAF - eine unabgeschlossene Geschichte

Rätsel und Mythos RAF - Herrhausen-Attentat

Wrack der Limousine von Alfred Herrhausen in Bad Homburg im November 1989. Der Chef der Deutschen Bank war zuvor durch eine Autobombe der RAF getötet worden. Der Mord ist bislang nicht aufgeklärt.

(Foto: dpa)

Ist die RAF eine Art "Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus"? Wolfgang Kraushaar untersucht die Wirkmächtigkeit der linksextremen Terrorgruppe.

Rezension von Christoph Dorner

Die RAF ist nicht Geschichte. Sie kann es nicht sein, solange die Attentate, die von der Terrorgruppe in drei Jahrzehnten verübt wurden, nicht vollständig aufgeklärt sind, sagt der RAF-Experte Wolfgang Kraushaar zu Recht. Doch das Verhältnis der Bundesrepublik zu ihren einstmals schärfsten Staatsfeinden hat sich verändert.

Das Schreckgespenst ist nicht nur in den Kanon der Popkultur eingegangen, es hat Alterserscheinungen bekommen. Als Kraushaar 2007 einen 1400 Seiten starken Sammelband über die RAF herausgab, wurde noch heftig über die Begnadigung eines Christian Klar gestritten und über die Beteiligten am Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback spekuliert.

Nun hat sich der Deutsche Herbst erneut gejährt, doch das Land hat sich neuen Ausprägungen des Terrorismus zuwenden müssen: dem NSU und einer neuen Qualität islamistischen Terrors, der es nicht explizit auf hochrangige Repräsentanten eines als feindlich definierten Systems abgesehen hat wie noch die Rote-Armee-Fraktion, sondern auf massenhafte, willkürliche Opfer.

Wen interessiert da, wenn Horst Mahler als Holocaustleugner durch die Nachrichten geistert, könnte man meinen. Denn solange die Kader an ihrem Schweigegelübde festhalten und Wissen des Verfassungsschutzes zurückgehalten wird, tut sich wohl keine neue Perspektive auf die RAF auf.

Wolfgang Kraushaar fragt in den ersten Zeilen seines 400-seitigen Buches über "Die blinden Flecken der RAF" unumwunden nach der Bedeutung von linkem Terrorismus in der Gegenwart. Die RAF sei zu "einer Art Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus" geworden, schreibt er. Kraushaar versteht das als Kritik an allzu sorglosen Gleichsetzungen und benennt die Differenzen zwischen dem religiös verbrämten Dschihad und den sozialrevolutionär gerechtfertigten Verbrechen der RAF.

Inwiefern sich etwa der deutsche Salafismus und die RAF in den Mechanismen ihrer Radikalisierung ähneln könnten, verfolgt Kraushaar aber leider nicht weiter. Sein Buch ist eine Mischung aus nacherzählter Zeitgeschichte, Kulturgeschichte des Linksterrorismus und Kompendium, das den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand über die RAF bündelt.

Kraushaar diskutiert einmal mehr die Faktoren, die Frauen, Anwälte und das religiöse Sendungsbewusstsein einiger Mitglieder für die Terrorgruppe gespielt haben. Er bezieht sich dabei etwa auf den Soziologen Gerhardt Schmidtchen, der bereits 1981 einen religiös inhaltsleer gewordenen Protestantismus als Erziehungsgefäß für die politische Überzeugungstat ausmachte.

Weil Ulrike Meinhof die Änderung der Verhältnisse als moralisch imperativ ansah, blieb auch ihr nur die Selbstermächtigung durch ihr protestantisches Gewissen. Sie führte wie bei Gudrun Ensslin zur Mission mit der Waffe, schreibt Kraushaar.

Kraushaar hat das Buch nach analytischen Kategorien gegliedert, die nur bedingt einer Chronologie der Ereignisse folgen und inhaltliche Wiederholungen zulassen. Wer sich für eine Dokumentation des Deutschen Herbsts interessiert, ist mit Butz Peters' aktuellem Buch über das Terrorjahr 1977 oder Stefan Austs detailversessenem Standardwerk "Der Baader-Meinhof-Komplex" besser bedient.

Kraushaars Buchtitel suggeriert ja bereits etwas anderes: Mit dem sozialpsychologischen Terminus des blinden Flecks will er vor allem Defizite in der Interpretation des RAF-Terrorismus aufzeigen.

Mit souveräner Quellenkenntnis zeichnet er nach, wie sich die Kader der ersten RAF-Generation aus Splittern einer 68er-Bewegung zusammensetzten, die selbst ihre blinden Flecken aufzuarbeiten hatte. Den Übergang von der subversiven Aktion zum bewaffneten Kampf befeuern damals eine unaufgearbeitete NS-Zeit, das politische Gewaltklima der 60er-Jahre, eine sensationslüsterne Presse.

Schlüsselfiguren für die Eskalation

Kraushaar macht aber auch allseits bekannte Schlüsselfiguren für die Eskalation aus: Da ist Rudi Dutschke, der in Anlehnung an Che Guevara die moralische Notwendigkeit einer Stadtguerilla propagiert.

Da ist der Kommunarde Dieter Kunzelmann, der eine zunächst spielerische Form der Revolte in handfesten Terror überführt. Und schließlich Andreas Baader, der von der kleinkriminellen Randfigur zum Anführer der RAF aufsteigt - und posthum zu "einer Art Negativstar der Mediengesellschaft" wird, schreibt Kraushaar.

Auch wenn sich der Politikwissenschaftler hier weitgehend auf dem Terrain seiner bisherigen Buchveröffentlichungen bewegt, muss man ihm attestieren, dass er die Akteurskonstellationen, Sogkräfte und Widersprüche erhellender darzustellen vermag als etliche Autoren, die dem Reiz erliegen, die Geschichte der RAF vor allem als Untergrund-Krimi zu erzählen.

Im Aufsatz über das "Faszinosum Militanz" deutet Kraushaar zudem an, warum sich das Konzept linker Gegengewalt von den Spontis um Joschka Fischer über die autonome Bewegung bis in die Gegenwart des G-20-Gipfels überlebt hat. Zumindest für radikalen Protest wird die RAF als Ersatzidentität anscheinend noch gebraucht.

Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der RAF. Verlag Klett-Cotta Stuttgart 2017, 423 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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