Deutscher Föderalismus:Ins gelobte Land

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Die Auswüchse des deutschen Föderalismus: Nach jahrzehntelangen Diskussionen wird die Grenze zwischen Hessen und Nordrhein-Westfalen neu gezogen.

Dirk Graalmann

Albert Brüne schüttelt verächtlich den Kopf: "Wir reden ständig vom vereinten Europa, aber solche Peanuts kriegen wir nicht hin." Der 73-Jährige ist seit 1974 Ortsvorsteher des Dorfes Bontkirchen, einem Stadtteil von Brilon, Hochsauerlandkreis. In Nordrhein-Westfalen. Eigentlich. Denn 22 der gut 500 Einwohner sind Hessen. Jedenfalls steht das in ihren Ausweisen, man erkennt es an ihren Nummernschildern und daran, dass die Müllabfuhr die Tonnen an der Willinger Straße an anderen Tagen leert.

Hannelore Behle (Gemeindevertretung von Diemelsee), Bürgermeister Franz Schrewe und der Ortsvorsteher von Bontkirchen Albert Brüne, der Bürgermeister von Diemelsee Volker Becker und der Ortsvorsteher von Stormbruch, Hans-Jürgen Becker (v.l.). (Foto: Foto: Thomas Winterberg)

Bontkirchen ist ein skurriles Beispiel für die Auswüchse des deutschen Föderalismus. Am Mittwochabend wird im Düsseldorfer Landtag unter Punkt 22 administrativ-nüchtern das "Gesetz zum Staatsvertrag zwischen den Ländern Hessen und Nordrhein-Westfalen über Änderungen der gemeinsamen Landesgrenze" eingebracht.

Hessische Diaspora

Wenn das Gesetz alsbald in NRW wie Hessen beschlossen wird, gehören die sechs Wohnhäuser, der Sportplatz, die Schützenhalle und die Zimmerei in Bontkirchen zu Nordrhein-Westfalen. Die Grenze verläuft in diesem Tal entlang des Flusses Itter: westlich davon ist NRW, östlich Hessen. Wohnbebauung gibt es eigentlich nur im Westen, das gesamte soziale wie kulturelle Leben von Feuerwehr über Sportverein bis hin zu Schulen und Kirchen spielt in Brilon-Bontkirchen, ergo NRW. Problematisch wurde es, als sich Bontkirchener Bewohner auf teilweise geerbten Grundstücken in der hessischen Diaspora niederließen.

Seit 1958 versucht Nordrhein-Westfalen, die quasi Heimatvertriebenen einzugemeinden. Sogar bis ins Jahr 1927 reichen erste zarte Anfragen nach dem offiziellen Grenzverlauf zurück. Die Bemühungen scheiterten stets, auch weil Hessen ungern auf seine abgeschiedenen, aber steuerzahlenden Einwohner verzichten wollte. Erst jetzt gab die zuständige hessische Gemeinde Diemelsee der "Umsiedlung" ihren Segen. "Die Mauer ist nach knapp 30 Jahren gefallen, aber wir haben die Leute hier 80 Jahre quasi eingesperrt", sagt Brüne.

Marion Vogtland gehört zu diesen Heimatvertriebenen. Die 47-Jährige wollte 1996 mit ihrem Mann auf einem Grundstück, das zwar ihr gehörte, aber auf hessischem Territorium steht, ein Haus bauen. Die dortigen Behörden zierten sich; seither kämpft Vogtland vehement für die Grenzänderung. Es dauerte fünf Jahre, bis die Baugenehmigung vorlag.

Nun war Marion Vogtland offiziell Hessin - obwohl sie eigentlich Nordrhein-Westfälin ist. Macht das einen Unterschied? Vogtland vermag farbig zu erzählen, wie beschwerlich deutscher Föderalismus im Alltag sein kann. "Es ist einfach so unfassbar unnötig". Sie musste Anträge stellen, damit ihre Kinder Anika und Marcel wie ihre Freunde in NRW zur Schule gehen konnten - zur nächsten Schule in Hessen gab es nicht einmal einen Bus.

Wenn Sie behördlichen Briefverkehr hat, schreibt sie als Postadresse "34519 Diemelsee-Stormbruch" aufs Kuvert. Wenn Sie dringend Post erwartet, gibt sie lieber "59929 Brilon-Bontkirchen" als Adresse an; sonst ist die Post drei, vier Tage länger unterwegs. Die hessische Postverteilstelle kann mit der Anschrift an der Willinger Straße nichts anfangen - und leitet die Post nach Brilon. Oder schickt sie ("Empfängeradresse unbekannt") gleich retour.

Nun bekommen die Hessen 390.000 Euro

Es gibt viele solcher Geschichten aus dem vermeintlichen Niemandsland in der Willinger Straße, das nicht einmal per Navigationsgerät zu finden ist. Vogtland erinnert sich an den Tag, als in der elterlichen Gaststätte "Zum Wiesengrund" (die auf hessischem Gebiet liegt) eingebrochen worden war und ihre Mutter den Notruf 110 wählte. Das Telefonnetz läuft - wie auch Wasser und Strom - über die westfälische Seite; die Beamten aus NRW waren prompt zur Stelle, nahmen eifrig den Polizeibericht auf - und zerknüllten ihn umgehend, als sie einen Blick auf den Ausweis der Eltern warfen. Für Hessen sind sie halt nicht zuständig.

Bald gehören die Skurrilitäten der Vergangenheit an; und außer dass er einen zusätzlichen Feiertag (Allerheiligen) nun hat, darf Vogtland auch Steuern und Abgaben an die NRW-Behörden zahlen.

Dafür wird die hessische Seite ordentlich entschädigt. Vereinbart war, den Hessen als Ausgleich 43 Hektar Wald zu überlassen; dann fegte Sturm "Kyrill" den Wald weg und Diemelsee wollte lieber Bares statt Brüchiges. Nun bekommen die Hessen 390.000 Euro; manchen in der neuen Heimat ist das ein bisschen viel für 22 Einwohner. Es sei, sagt Vogtland, "schon ein komisches Gefühl, mit einer Art Kopfgeld verhökert zu werden. Aber wir wollten es ja immer."

© SZ vom 24.06.2009/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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