Deutsch-türkisches Verhältnis:Jetzt ist für Gabriel die Zeit gekommen, auf Erdoğan zuzugehen

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"Der nächste dringende Schritt ist hier die Vorlage einer Anklageschrift", sagt Außenminister Sigmar Gabriel zum Fall des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel. (Foto: dpa)

Denn offenbar entfaltet seine "neue deutsche Türkei-Politik" Wirkung. Im Zentrum aller Bemühungen muss stehen, Deniz Yücel freizubekommen.

Kommentar von Mike Szymanski

Erst kam der Menschenrechtler Peter Steudtner frei. Dann durfte die Journalistin Meşale Tolu nach Monaten der Haft das Gefängnis verlassen. In der Nacht zu Freitag konnte der Pilger David Britsch, der seit April in der Türkei in Abschiebehaft festsaß, nach Schwerin zurückkehren.

Die Freude über diese guten Nachrichten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Erdoğan die Türkei zuletzt für ein Dutzend Deutsche aus politischen Gründen in ein Verlies verwandelt hatte. Aber mit jedem Mann, mit jeder Frau, die nun freikommen, öffnet sich die Tür dieses Verlieses einen winzigen Spalt. Es fällt wieder Licht ins Dunkle.

Außenminister Sigmar Gabriel kann sich zugutehalten, dass seine "neue deutsche Türkei-Politik" Wirkung entfaltet. Er hatte Ankara mit Wirtschaftssanktionen gedroht und Deutsche vor Reisen in das Land gewarnt. Ankara müsse sich bewegen, wenn sich das deutsch-türkische Verhältnis entspannen soll, hieß es in Berlin. Gabriel rechnete am Freitag vor, dass sich die Regierung in Ankara in kurzer Zeit sechsmal bewegt habe - so häufig sei zu Gunsten deutscher Inhaftierter entschieden worden. Nunmehr stellt sich die Frage für ihn: Wann ist die Zeit gekommen, auf Erdoğan zuzugehen?

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Der 55-jährige Schweriner saß seit Februar 2017 in Abschiebehaft. Er wollte nach eigener Aussage über die Türkei nach Jerusalem pilgern. Außenminister Gabriel hofft nun auf bessere deutsch-türkische Beziehungen.

Mit Konfrontation wird Deutschland im Fall Yücel wenig erreichen

Die Antwort sollte lauten: jetzt. Trotz allem. Natürlich sieht Erdoğan wieder nur seinen Vorteil, wenn er Milde zeigt. 2019 ist sein Schicksalsjahr. Dann will er den Übergang zur Präsidialverfassung mit seiner Wiederwahl vollenden. Doch sein Versprechen auf Wohlstand und Aufschwung wird er nicht einlösen können, wenn er sich weiter von Europa abwendet.

Im Zentrum aller Berliner Bemühungen muss aber stehen, den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel freizubekommen. Er wird seit zehn Monaten im Gefängnis festgehalten. Sein Fall gilt als der am schwierigsten zu lösende. Erdoğan hatte Yücel wiederholt als Spion und Terrorist bezeichnet und den Fall auf diese Weise zu seiner persönlichen Sache gemacht. Nur mit Konfrontation wird Berlin für Yücel daher wenig erreichen. Gabriel weiß das. Er war im November zu einem informellen Besuch zu seinem Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu gereist. Kurz darauf wurde für Yücel die Isolationshaft aufgehoben.

Es gibt Möglichkeiten, auf Ankara zuzugehen, ohne gleich Gefahr zu laufen, sich Erdoğans Willen zu unterwerfen. Ein Anfang wäre gemacht, wenn Gabriel nun Çavuşoğlu nach Deutschland einlüde. Nach Monaten des Dauerstreits wäre eine solche Begegnung allein atmosphärisch ein großer Fortschritt in einem Konflikt, der auch bis tief hinein in Deutschland das Miteinander belastet.

Deutschland braucht kritische Auseinandersetzung mit Gülen-Bewegung

Berlin könnte Ankara zudem zusagen, den Kampf gegen Strukturen der kurdischen Terrororganisation PKK in Deutschland ernster als bisher zu führen. Eine kritischere Auseinandersetzung mit der islamischen Gülen-Bewegung, die Erdoğan für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht, wäre auch im Interesse der Deutschen. Denn dass es sich bei der Gülen-Bewegung um eine rein gemeinnützige Bildungsbewegung handle, wie der BND-Chef unlängst meinte, kommt einer fahrlässigen Verklärung gleich.

Klar sollte sein, was nicht geht: Dazu gehört die Auslieferung von vermeintlichen Putschgenerälen, die Asyl in Deutschland beantragt haben. Auch bei der von der Türkei gewünschten Vertiefung der Zollunion muss Deutschland hart bleiben: Nein. Die Diplomatie muss einen Punkt erreichen, an dem sich auch Erdoğan die Frage stellt: Soll wirklich eine einzige inhaftierte Person der Grund für einen dauerhaften Bruch zwischen Deutschland und seinem Staat sein?

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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