Der Umgang mit dem Islam:Ein hundertjähriger Kampf

Der Westen verliert in der islamischen Welt zunehmend an Ansehen: Wer konsequent das Gespräch verweigert, begibt sich in die Gefahr, dass man ihm andere Absichten als den Frieden unterstellt.

Rudolph Chimelli

Die Lichter gehen aus, überall in Europa", sprach ahnungsvoll der britische Außenminister Edward Grey beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. "Wir werden nicht erleben, dass sie wieder angezündet werden." Er sollte recht behalten, denn selbst wenn danach zeitweilig die Waffen schwiegen, trat der alte Zustand von Frieden, Stabilität und bürgerlicher Ordnung nie mehr ein. Die "Belle Epoque" war unwiederbringlich vorbei.

Was die Schüsse von Sarajewo für das 20. Jahrhundert bedeuteten, brachte der 11. September für das neue Jahrhundert, kaum dass es begonnen hatte: das Ende einer Periode des Friedens für die Erste Welt, die ihre Kriege von Stellvertretern in der Dritten Welt hatte führen lassen.

Mehr Macht für den Großen Bruder Staat, der seine Überwachungsnetze zum Schutz vor Terroristen enger knüpft. Wirtschaftliche Unsicherheit und Zukunftsängste. Die internationale Ordnung, die auf Konsens im Sicherheitsrat und auf Mehrheiten in der öffentlichen Meinung beruhte, bestand die Probe nicht.

Selbst die Abschaffung der Folter, eine Ruhmestat der Aufklärung, bleibt nicht unantastbar. Nichts ist mehr wie vorher, nichts wird mehr so sein.

Was in seinen Anfängen nur als vorübergehend, als Ausnahmezustand empfunden wurde, ist neue Normalität. Man hatte sich seit 1945 daran gewöhnt, dass Bilder von Zerstörung, Elend und weinenden Menschen immer aus der Ferne kamen: aus Vietnam, aus Afrika, aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan, vom indischen Subkontinent. Mit dem Einsturz des World Trade Centers brach der Schrecken über Amerika herein, mit den Attentaten von Madrid und London auch über Europa.

Die Globalisierung war so nicht gedacht. Aber auch das ist eine ihrer Seiten, wie im Westen nur widerstrebend begriffen wird. Denn wo eine regierungsamtliche Laserbombe einschlägt, sieht es genau so aus wie dort, wo die primitive Sprengladung eines Terroristen explodiert.

Auf der Empfängerseite wird es so und nicht anders empfunden. Noch kann dies im Westen nicht jeder so gelassen nehmen wie Peter Ustinov, der einmal sagte: "Terrorismus ist der Krieg der Armen, und Krieg der Terrorismus der Reichen."

So weitblickend wie der Brite Edward Grey sind die Regierenden von heute offensichtlich nicht. Sonst hätten sie Hintergründe und Motive besser ausgelotet, bevor sie "dem Terrorismus" den Krieg erklärten. Ein klassischer Waffengang hatte territoriale oder politische Ziele, die erreichbar waren.

Sie konnten durch einen Vertrag mit dem besiegten Gegner legalisiert werden. Selbst die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, mit der die Alliierten den Zweiten Weltkrieg führten, war realisierbar, weil auf der anderen Seite völkerrechtlich vertragsfähige Staaten wie Deutschland und Japan standen.

Ein zeitlich nicht eingrenzbarer Krieg

Weltweiter Krieg gegen einen territorial nicht fassbaren Feind ist dagegen auch zeitlich nicht eingrenzbar. Ein fünfjähriger Krieg ist daraus geworden. Er kann zum dreißig- oder sogar zum hundertjährigen Krieg werden.

Die Aussichten, die der 11. September eröffnete, sind für die Welt nicht erfreulich. Feldzüge nach Afghanistan oder in den Irak bewirken gar nichts, wie inzwischen alle wissen. Es nützt auch nichts, dem Feind ein Gesicht wie das des Osama bin Laden zu geben. Sein Einfluss auf die terroristische Weltbewegung ist so unwägbar, wie es der Erfolg seiner eventuellen Ausschaltung wäre.

Wenn die Nato-Streitkräfte nach ihrer jüngsten Offensive im Süden Afghanistans in einem triumphierenden Communiqué erklären, sie hätten zweihundert Taliban getötet - denkt irgendjemand an politisch verantwortlicher Stelle daran, dass jeder dieser zweihundert Kämpfer Brüder, Söhne, Vettern hat, die von nun an nichts als Rache wollen?

Ein britischer Botschafter (Ivor Roberts in Rom) hat den amerikanischen Präsidenten George W. Bush schon vor dessen Wiederwahl "den besten Rekrutierungs-Sergeanten für al-Qaida" genannt.

Vom "Kreuzzug", den Bush zu Beginn proklamiert hatte, rückte er rasch wieder ab. Weil der "globale Krieg gegen Terrorismus" gleichfalls zu negativ klang, wurde daraus der positive "Große Krieg für Demokratie". Aber auch dieses Schlagwort erwies sich als untauglich.

Denn die Guten in diesem Krieg, die mit den USA verbündeten Herrscher der islamischen Welt, sind nicht demokratisch legitimiert. Die demokratisch gewählten Kräfte wie die palästinensische Hamas oder die libanesische Hisbollah gelten hingegen nicht als gut.

Als jüngstes Feindbild wurde der "islamische Faschismus" kreiert - unbestimmt, unscharf, sachlich nicht begründbar, wahrscheinlich nicht auszurotten, aber wenigstens deutlich in der moralischen Abwertung. Faschismus ist wie die "Achse des Bösen", eine Teufelsmacht, mit deren Vertretern die ehrenwerten Leute nicht sprechen.

Der verweigerte Dialog schließt freilich jede Problemlösung aus. Sogar über Waffenstillstand und zeitweiliges Arrangement lässt sich dann nur heimlich verhandeln. Wer Konflikte regeln will, muss mit der anderen Seite reden, nicht nur mit Gleichgesinnten: in Palästina mit der Hamas, über den Libanon mit der Hisbollah, über Iran mit Iran.

Ob aus den gegenwärtigen Konflikten mit niederer Intensität ein Weltkrieg der Werte wird, der von Samuel Huntington prophezeite Zusammenprall der Zivilisationen, ist trotz allem noch nicht sicher.

"Sie verstehen nur die Sprache nationaler Interessen"

Gleichwohl sieht es mindestens Aiman al-Sawahiri so, bin Ladens rechte Hand: "Der Westen unter Führung der USA versteht die Sprache der Ethik, der Moral, legitimer Rechte nicht", schreibt er. "Sie verstehen nur die Sprache nationaler Interessen, gestützt von roher militärischer Kraft. Wenn wir einen Dialog wollen, müssen wir deshalb mit ihnen in der Sprache reden, die sie verstehen."

Spiegelbildlich dazu urteilt der britische Premier Tony Blair. Für ihn gibt es "nicht einen Zusammenstoß der Zivilisationen, sondern einen Zusammenstoß über Zivilisation, den uralten Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion, ein Kampf, den wir gewinnen müssen".

Als das World Trade Center zusammenfiel, waren die USA die einzige Supermacht. Ihren neuen Status als Sieger nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine treffender als "Hypermacht" beschrieben. Für seine Rüstung gibt Amerika mehr aus als sämtliche anderen Länder der Erde zusammen, und dies obwohl es keinen weltpolitischen Rivalen Amerikas mehr gibt.

Rund um die Welt unterhalten die USA offiziell 729 Militärbasen, geheime Anlagen nicht eingerechnet. Es gibt keinen Feind mehr, der mit dem großen Stock eingeschüchtert werden müsste. Die Besorgnis über iranische Fernraketen mit Atomsprengköpfen ist genauso synthetisch wie einst die Kriegshysterie wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen des Irakers Saddam Hussein.

Nicht nur in den islamischen Ländern wächst das Missbehagen an der amerikanischen Übermacht, die beinahe nach Belieben handeln kann. In Europa sprechen die Franzosen am vernehmbarsten von einer "multipolaren" Welt, ohne die sie sich die Zukunft nicht vorstellen mögen. Auch bei anderen Europäern wird früher oder später die Erkenntnis reifen, dass sie seit eineinhalb Jahrzehnten auf einem befriedeten Kontinent leben, ohne Sowjetunion. Europa ist in dieser Lage für Amerika wichtiger geworden als Amerika für Europa.

Nicht oberlehrerhaftes Auftrumpfen ist gefragt, sondern höflicher, aber beharrlicher Widerstand gegen weitere militärische Unternehmen. Das internationale Gewicht Chinas und Indiens und ihr Wirtschaftspotenzial nehmen schnell zu, das nationale Selbstbewusstsein Russlands erholt sich wieder. Möglicherweise liegt das Jahrhundert Amerikas nicht vor uns, sondern hat schon von 1945 bis zum Jahr 2000 stattgefunden.

In der islamischen Welt leben nicht überwiegend irrationale Desperados, sondern normale Menschen, die in Sicherheit und Wohlstand leben wollen. In einer Reihe von Ländern sind es gerade die großen gemäßigt islamistischen Bewegungen, die für freie Wahlen und für eine Form von Pluralismus eintreten, der sich mit ihrer Kultur verträgt.

Der Westen verliert bei jenen Völkern sein Ansehen und bringt sich um jede Chance einer haltbaren Lösung, wenn er weiter die Partei korrupter Autokraten ergreift. Wer konsequent das Gespräch verweigert, begibt sich zudem in die Gefahr, dass man ihm andere Absichten als den Frieden unterstellt.

Keine äußere Macht bedroht heute Amerika. Es hat sich aber am 11. September 2001 und danach gezeigt, dass sein Riesenarsenal gegen den einzigen wirklich gefährlichen Feind wirkungslos ist, der durch die Hintertür kommt: den Terrorismus. Moskitos lassen sich nicht mit dem Presslufthammer bekämpfen, Raketen nicht auf E-Mail-Adressen richten. Viele Attentatspläne können durch Geheimdienste entschärft werden. Gegen das Risiko, dass andere Anschläge gelingen, ist dennoch weder Amerika noch Europa gefeit.

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