Der Lügenfuchs:Die Tugenden des Silvio Berlusconi

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Die italienische Rechte möchte ihre "brutale Offenherzigkeit" in Europa verbreiten. Aber die Europäische Union sollte sich dazu nicht instrumentalisieren lassen, in einem halben Jahr ist das italienische Semester auch schon wieder vorbei.

Gianni Vattimo

Die einzige Partei der rechten italienischen Regierungskoalition, die den obszönen Scherz des italienischen Ministerpräsidenten über Martin Schulz verteidigt hat, war - von Silvio Berlusconis Angestellten der Forza Italia einmal abgesehen - die Lega Nord von Umberto Bossi.

Da kam Freude auf über die Offenherzigkeit, die Berlusconi endlich auch in den ein bisschen langweiligen Sälen der europäischen Institutionen eingeführt hat. Die gleiche Offenherzigkeit, mit der Bossi öffentlich dazu auffordert, mit Kanonen auf illegale Einwanderer zu schießen, oder schlimmer noch, mit der er erklärt, dass er sich mit der italienischen Nationalfahne am liebsten den Hintern abwischen würde.

Trotz der aufgesetzten guten Manieren des Cavaliere - gestern lobte der Foglio, eines seiner Familienblätter, die Gelassenheit, mit der auf Verleumdungen reagiert habe - ist das Klima, das die italienische Rechte nun auch in Europa verbreiten will, von dieser "Offenherzigkeit" gekennzeichnet. Es ist dieselbe Unverfrorenheit, die politische Berater Berlusconi immer wieder anempfehlen - zum Beispiel auch bei dem zum Himmel schreienden "spoil system", mit dem er in Italien alle wichtigen Posten an seine Vertrauten vergibt.

Diese Offenherzigkeit, die man eigentlich Brutalität nennen müsste, dient der italienischen Rechten heute vor allem dazu, im Klima der Marktgesellschaft die vielfältigen demokratischen Garantien, Kontrollen und typischen Hemmnisse zu übergehen. Nicht von ungefähr beruft sich Berlusconi andauernd auf seine Erfahrungen als Unternehmer, das heißt als Eigentümer. Wenn man einen Staat oder eine politische Einrichtung wie Europa wie ein Unternehmen führen will, muss man ohne großes Zögern - und vor allem ohne Kontrollen - zügig entscheiden können.

So gesehen verkörpert Berlusconi eine der alarmierendsten Gefahren für die Demokratie: er opfert die politische Teilnahme der Staatsbürger auf dem Altar der Effizienz. Berlusconi denkt, dass er diesen Weg gefahrlos beschreiten kann, weil er die Massenmedien kontrolliert. Wie haben zum Beispiel die italienischen Fernsehanstalten die Nachricht von dem Unheil verbreitet, das Berlusconi vorgestern im europäischen Parlament angerichtet hat? Alles reduzierte sich auf einen Zusammenstoß zwischen ihm und einem kleinen deutschen Provokateur, während der mehr oder weniger formale Beifall auf die rhetorischen Wendungen seiner Eröffnungsrede künstlich verstärkt wurde.

Obendrein wollte man glauben machen, das Schulz, indem er an Bossis Fremdenfeindlichkeit und Berlusconis Justizprobleme erinnerte, Italien beleidigt habe. Hier zeigt sich ein zweiter schwerwiegender Effekt der Krise der Demokratie: die vorgegebene Offenherzigkeit, die Direktheit der Entscheidungen (die sich ein bisschen auf Machiavelli, ein bisschen auf von Clausewitz und ein bisschen auf Carl Schmitt beruft), kann in aller Brutalität hinter einem Schutzschild aus Lüge und der Kontrolle über die Medien ausgeübt werden. Machiavelli sprach vom Fürsten, der die "virtù", die Tugend des Fuchses, mit jener des Löwen in sich vereinigen müsse.

Heute ist die Tugend des Fuchses zur Fähigkeit mutiert, beharrlich zu lügen. Und von den Tugenden des Löwen findet man in der Politik Berlusconis nur noch das Gebrüll großspuriger Ankündigungen etwa in der Wirtschaftspolitik, die durch die sinkende Kaufkraft der Einkommen in Italien widerlegt werden.

Außenstehende mögen den Ausfall gegen Schulz nur auf den Verlust der Selbstkontrolle eines Showmans zurückführen, der sich gehen ließ. Das könnte man vielleicht sogar als ein sympathisches Zeichen von Ehrlichkeit deuten wie die vielen anderen Kindereien, mit denen Berlusconi bei öffentlichen Auftritten in Europa bekannt geworden ist - von dem gehörnten Fingerzeig hinter dem Kopf eines Kollegen bis zum militärischen Gruß jüngst in Saloniki.

Aber der Rahmen, in den all dies gehört, ist die wiedergefundene Rolle einer Politik, die als Kampf verstanden wird, als Krieg, als erlaubte Gewalt. Und die sich der Lüge bedient, die man mittels der Kontrolle über die Kommunikationsmitteln zur Wahrheit wandelt.

Was hat Europa nun von dieser Angelegenheit zu befürchten, die scheinbar rein italienisch ist? Eigentlich nicht viel, denn das italienische Semester läuft bereits am Jahresende aus, und die europäische Politik wird von einem Rat bestimmt, in dem Berlusconi keine Mehrheit hat. In der Zwischenzeit hat Berlusconis Vorsitz im Europa-Rat schon in Italien Schaden angerichtet: die Immunität Berlusconis ist genau mit der faulen Ausrede beschlossen worden, dass Italien seinen guten Ruf nicht verlieren dürfe. Und was die Union angeht, so scheint die Parlamentssitzung am Mittwoch die traurige Vorwegnahme des Schlimmen, was noch auf uns zukommt: ideenlose Rhetorik zusammen mit einigen Kraftakten bei Angelegenheiten, die der römischen Rechtskoalition am Herzen liegen.

Die Inhaltsleere des Programms, die Berlusconi vor dem Parlament offenbart hat, ist exakter Ausdruck der Widersprüche und der Entpolitisierung seiner Mehrheit in Italien. In Italien hält diese Mehrheit trotz aller internen Widersprüche nur wegen des europäischen Semesters, das es ehrenhaft zu beenden gilt.

Insofern hat das europäische Semester dieselbe Funktion wie die Immungesetze und schiebt alle Ungereimtheiten Berlusconis auf die lange Bank. Aber wird sich Europa wirklich von unserer gefährlichsten Person so hemmungslos ausnutzen lassen?

Der Heidegger-Forscher und Philosoph Gianni Vattimo lebt in Turin. Als Europaabgeordneter vertritt er die italienischen Linksdemokraten in Straßburg.

Deutsch von Henning Klüver

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