Der Fall Tuğçe:Heroisierung und Skandalisierung

Medienkampagnen entfalten, verstärkt durch Internet und soziale Netzwerke, schnell zerstörerische Wirkung. Es bleibt kein Raum für Zwischentöne.

Von Josef Kelnberger

Jede Gesellschaft braucht Vorbilder. Sie geben dem Einzelnen Orientierung und sorgen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Die Heldinnen und Helden müssen aber einer eingehenden Prüfung standhalten. Das ist eine sehr banale Weisheit, aber man muss immer wieder daran erinnern. Der spektakuläre Fall Tuğçe zeigt, welche fatale Konsequenzen es hat, Menschen vorschnell auf ein Podest zu heben. Sogar der Bundespräsident schien das vergessen zu haben - auch in diesem Fehler der oberste Repräsentant seines Volkes.

Gauck war in einer kuriosen Wendung des Prozesses in Darmstadt am Ende sogar auf der Anklagebank gelandet. Der Richter beklagte sich über hochrangige Politiker, die ihm durch ihre Vorverurteilungen sein Handwerk erschwerten. Damit war auch Gauck gemeint. Er hatte von einem "brutalen Verbrechen" gesprochen, was es, bei aller Tragik des Falles, letztlich nicht war. Körperverletzung mit Todesfolge: Die nüchterne Juristen-Sprache trifft es am besten. Am Tag nach dem Urteilsspruch verkündete Gauck nun, die junge Frau werde nun doch nicht posthum mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Die Voraussetzungen seien "nicht im erforderlichen Maße" erfüllt. Und natürlich drängt sich die Frage auf: War Tuğçe nun doch kein guter Mensch?

Nach allem, was man weiß, war sie ein guter Mensch: Klug und mutig, mit ihren türkischen Wurzeln ein Beispiel für gelungene Integration. Sie war nur eben in jener Nacht von 14. auf den 15. November 2014 nicht das Vorbild an Zivilcourage, zu dem man sie vorschnell ausrief. Sie hat den Schläger wohl auch provoziert. Mit den Folgen dieses Hochjubelns und Fallenlassens muss nun die Familie des Opfers leben.

Es bleibt kein Raum für Zwischentöne

Auch der Täter wird sein Leben lang unter der Vorverurteilung leiden, den Ruf eines "Killers" wird er wohl nicht mehr los. Er soll nun hinter Gitter lernen, was "Empathie" ist, Mitgefühl. Er ist aber nicht der Einzige, der aus diesem Fall Konsequenzen ziehen sollte. Sucht man nach Gründen für den Tuğçe-Wahn, landet man sehr schnell im Kulturpessimismus. Eine immer komplexere Welt verstärkt den Wunsch nach Übersichtlichkeit, nach einer möglichst schnellen und möglichst klaren Einteilung der Welt in Gut und Böse. Medienkampagnen entfalten, verstärkt durch Internet und soziale Netzwerke, schnell zerstörerische Wirkung. Heroisierung und Skandalisierung gehen Hand in Hand und lassen keinen Raum für Zwischentöne. Aber muss man deshalb die Hoffnung aufgeben, dass die Gesellschaft lernfähig ist?

Vorverurteilungen hat es zu allen Zeiten gegeben, auch wenn es noch nie so schwer war, sich zu entziehen. Der Richter in Darmstadt stellte sogar seine eigene Neutralität infrage. Aber letztlich hat die Justiz auch in diesem Fall ihre Funktion erfüllt. Mythen entzaubern, die Wahrheit offenlegen. Der Fall Tuğçe: ein banaler Streit auf einem Offenbacher Parkplatz morgens um vier. Ein Tod, zum Heulen sinnlos. Auch damit muss man leben lernen.

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