Der Fall Karl-Heinz Kurras:Keiner verlässt den Saal

Die Stille nach dem Schuss: Der Fall Kurras hat die Bedeutung des 2. Juni 1967 als Schlüsseldatum der deutschen Nachkriegsgeschichte noch erhöht.

Gerd Koenen

Gerd Koenen ist Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Seine Bücher "Das rote Jahrzehnt" (2001) und "Vesper, Ensslin, Baader" (2003) haben sich mit den Radikalisierungen der Jahre 1967 bis 1977 beschäftigt. Im Herbst 2008 erschien "Traumpfade der Weltrevolution - Das Guevara-Projekt".

Der Fall Karl-Heinz Kurras: Am 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg erschossen - ein Schlüsseldatum der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Am 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg erschossen - ein Schlüsseldatum der deutschen Nachkriegsgeschichte.

(Foto: Foto: AP)

Die Bedeutung des 2. Juni 1967 als eines Schlüsseldatums der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte hat sich durch den Zufallsfund der Stasi-Akte des Kommissars Kurras nicht erledigt, nur erhöht. Könnte man Geschichtsschreibung wie eine Kriminaluntersuchung betreiben, wäre man versucht, wie Hercule Poirot oder Kommissar Maigret zu sagen: Keiner verlässt den Saal!

Wenn ich mit mir selbst beginne, dann mischen sich Beschämung und Zorn. Beschämung, weil ich unter den allzu Bereitwilligen war, die die Schüsse beim Schah-Besuch als Ausdruck einer folgerichtigen Entwicklung zum faschistoiden Notstands-Staat (leichthin auch schon NS-Staat genannt) gesehen haben. Alles, was in meinem langen "roten Jahrzehnt" danach kam, habe ich selbst zu verantworten.

Mit Benno Ohnesorg konnte man sich identifizieren

Aber vor dem 2. Juni war das nur eine bloße, misstrauische Latenz. Alle wirklichen Radikalisierungen und ideologischen Verfestigungen kamen erst danach. Der Schrecken, der von diesen Ereignissen ausging, war authentisch. Mit diesem ermordeten Studenten mit dem poetischen Namen Benno Ohnesorg, der als reiner Tor in die Todeszone im verminten ost-westlichen Gelände geraten war, konnte man sich unmittelbar identifizieren.

War das falsch, sich zu identifizieren und von Mord zu sprechen? Das war es nicht, jetzt noch weniger als vorher. Deshalb der frische Zorn, der allerdings mehrere Adressaten hat.

Da wäre zum Beispiel das pompöse Geleit, das Fackelträger der FDJ dem Trauerzug die Interzonenautobahn entlang gaben und das jetzt noch heuchlerischer und abgründiger erscheint, seit man weiß, dass ein überzeugter SED-Mann diesen linken Studenten auf dem Gewissen hat. Dass die Führungsoffiziere des IM "Bohl" alias Kurras und seine Parteimentoren nach der Tat erschrocken gewesen sind, also ihrem Agenten offenbar keinen Auftrag dieser Art erteilt hatten, macht nichts besser.

Aber mildert diese späte Enthüllung in irgendeiner Weise die Verantwortlichkeit der Westberliner Politik, Polizei und Justiz? Im Gegenteil. Sicher, hätte man damals schon gewusst, was es mit diesem Kriminalrat Kurras auf sich hatte! Aber warum hat man damals nichts gewusst? Das ist eine - keineswegs hypothetische - Frage.

Und sie führt uns genau in jenes ost-westliche Minenfeld, in dem der Student Ohnesorg umkam und in dem entscheidende Radikalisierungen der Protestbewegung sich abgespielt haben. Hier, in dieser düsteren Verwirbelungszone, warten auf die zeitgeschichtliche Forschung wie auf die journalistische Recherche noch wichtige Aufgaben. Und die Wege dahin führen vielleicht nicht nur in die Birthler-Behörde und das Stasi-Archiv. Auch Archive auf der westlichen Seite der Mauer wären womöglich erst noch zu öffnen und zu sichten - falls sie nicht "aus Datenschutzgründen" bereinigt worden sind.

Wenn man diskutiert, "was gewesen wäre, wenn", dann hätte der 2. Juni 1967 in all seiner Tragik auch eine Chance sein können. Alle hätten tödlich erschrocken sein müssen, die politisch und polizeilich Verantwortlichen an erster Stelle. Aber so war es nicht. Der Schütze Karl-Heinz Kurras wurde sofort nach dem Schuss "nach hinten" beordert. Statt dass man ihn festgenommen hätte, konnte er (mit oder ohne Wissen seiner Vorgesetzten) sein Magazin austauschen und alle Spuren beseitigen - wie es ihm auch seine Ostberliner Führungsoffiziere empfahlen.

Alle diese offenkundigen und strafbaren Vertuschungsaktionen wurden weder von Staatsanwälten in flagranti untersucht, noch verhinderten sie die mehrfachen Freisprüche des Todesschützen. Hätte es je eine Chance gegeben, diesen Agenten des Ostens dingfest zu machen, dann damals.

Stattdessen konnte er bequem in einer Nebelwand von aggressiven Schuldzuweisungen an die Adresse der Demonstrierenden untertauchen. Die einschlägigen Zitate sind bekannt - aber lesen sich im Lichte der jüngsten Erkenntnisse über den Todesschützen vom 2.Juni noch einmal anders.

So, wenn es in der Bild-Zeitung am Tag darauf hieß: "Ein junger Mann ist gestern in Berlin gestorben. Er wurde Opfer von Krawallen, die politisch Halbstarke inszenierten... Ihnen genügt der Krawall nicht mehr. Sie müssen Blut sehen. Sie schwenken die Rote Fahne, und sie meinen die Rote Fahne. Hier hören der Spaß und der Kompromiss und die demokratische Toleranz auf. Wir haben etwas gegen SA-Methoden." Und so weiter.

Oder wenn in einer Trauerstunde des Senats der Regierende Bürgermeister Albertz erklärte: "Der tote Student ist hoffentlich das letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist, die die Freiheit missbraucht, um zu ihrem Endziel, der Auflösung einer demokratischen Grundordnung zu gelangen..."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Selbstkritik eine einseitige Angelegenheit von Ex-Linken geblieben ist und man die Doppelbödigkeit von BRD und DDR aufklären sollte.

Eine Serie von fatalen Kopfschüssen

Das war nicht einmal ganz falsch. Aber es waren dennoch in der gegebenen Situation die falschen Worte, durch die die Tat und der Täter ungreifbar wurden. Heinrich Albertz hat seinen epochalen Fehler später immerhin gesehen und verstanden, als er sagte: "Ich war am schwächsten, als ich am stärksten sein wollte."

Aber hat irgendjemand sonst von denen, die an dieser frontalen Kollision verbal oder praktisch mitgewirkt haben, irgendeine Verantwortung übernommen? Die Selbstkritik, das darf ich sagen, ist eine einseitige Angelegenheit von selbstreflexiven Ex-Linken geblieben.

Die Akte Kurras stellt das alles nun noch einmal in ein schärferes, härteres Licht. Gewiss, der fanatische Pistolenschütze wusste schon, warum es ihn in östliche Dienste zog. Hier gab es noch zu exekutieren und zu liquidieren. Dieser Kurras war einer von Mielkes Schrot und Korn, dem die Spannung, in einer Sondereinheit der Westberliner Polizei "Verräter" aufzuspüren (und zu warnen), während er selbst der Top-Verräter war und seine Ostberliner Auftraggeber mit konspirativen Informationen versorgte, eine Art Lebenssteigerung bedeutet haben dürfte. Die Frau eines SEW-Kollegen, die vor ihm (als verhörendem Kommissar West) "gesungen" hatte, hätte er am liebsten (als fanatischer Geheimpolizist Ost) eigenhändig erschossen. Diese Gelegenheit kam dann erst am 2. Juni.

Wieso machte aber so einer von Mielkes Schrot und Korn, der seine gesamte Freizeit auf dem Schießplatz verbrachte, wo er seine Ostberliner Honorare in Form von scharfer Munition verballerte, in der Westberliner Polizei Karriere? Wieso fiel niemandem etwas auf? Oder passte das ganz gut zur Mentalität eines Polizeikorps, in dem nicht wenige der höheren Chargen sich ihre Sporen bei der Partisanenjagd im Weltkrieg verdient hatten?

So wie der Einsatzleiter am 2. Juni, der seine Leute in vertrauter Terminologie zur "Füchsejagd" auf die Demonstranten hetzte. Die Studenten, so viel ist klar, brachten alle diese komplementären, sich gegenseitig nährenden Freund-Feind-Ordnungen im Nachkriegsberlin durcheinander. Im Hass auf die langhaarigen Studenten und "Chaoten" wird sich der SED-Mann Kurras mit seinen Westberliner Kollegen ganz einig gewesen sein.

Und natürlich war es Teil seiner Tarnung, und in allgemeiner Form vielleicht auch Teil seines Auftrags, sich als harter Hund zu profilieren, der kein Pardon gab. In diesem Sinne dürfte er durchaus auf eine Rolle als Agent Provocateur ausgerichtet gewesen sein - mit der doppelten Funktion, die Situation anzuheizen und die Westberliner Polizei gegebenenfalls ins Zwielicht zu rücken. Zumindest die letztere Funktion hat er für seine Ostberliner Auftraggeber auch tatsächlich erfüllt. So konnte sich das Neue Deutschland nach dem 2. Juni vor gespielter Empörung über diese ruchlose, faschistische Tat kaum einkriegen.

Wie beim heutigen "Krieg gegen den Terror" konnten damals im (politisch legitimen) Kampf gegen den Kommunismus, ob beim verheerenden Krieg in Vietnam oder an einer heißen Schnittstelle des Kalten Kriegs wie in Berlin, die hehren Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch auf westlicher Seite leicht über Bord gehen. Das eben sind die Situationen, in denen man oft nicht mehr weiß, wer für welche Seite steht.

Andere, ungeklärte Ereignisse von damals kommen einem in den Sinn. Da ist etwa der Fall des Westberliner Verfassungsschutzagenten Peter Urbach, der im Jahr 1967 noch als "S-Bahn-Peter" bei der Ostberliner Reichsbahn angestellt war und der über mehr als drei Jahre hinweg, bis in die Anfänge der RAF, den gewaltbereiten Underground der Protestbewegung mit Pistolen und Sprengsätzen beliefert hat.

Diejenigen, die Kurras nach dem Todesschuss gedeckt und (laut Innensenator Körting) seine Akte beim Verfassungsschutz später gelöscht haben, könnten doch in etwa dieselben sein, die auch den notorischen Agent Provocateur Urbach damals instruiert haben und ihn 1971 auf Kosten des Steuerzahlers außer Landes schafften. Dieser Skandal der Republik bleibt dringend aufzuklären, wohin die Spuren auch führen - und könnte ganz ähnlich erschütternd wirken wie jetzt der Fall Kurras.

Und da man schon fast alles für möglich hält: War es reine Paranoia oder eine nicht unplausible Intuition, als der DDR-Abhauer Rudi Dutschke in den letzten Jahren seines Lebens zu der Vermutung kam, sein Attentäter, der junge Rechte Josef Bachmann, der wie er aus dem Osten kam und mit dem er etliche Briefe gewechselt hatte, könnte auch von Mielkes Staatssicherheit angestiftet worden sein?

Es geht nicht darum, die Nachkriegsgeschichte des geteilten Deutschland in eine Kriminalgeschichte zu verwandeln. Aber es geht um eine Serie von fatalen Schüssen, von Kopfschüssen, die von 1967 bis 1977 flashartig erhellt haben, welche Mördergruben sich hinter den Biedermannsfassaden auftaten. Diese unheimliche Doppelbödigkeit der beiden äußerlich scharf getrennten, untergründig vielfach miteinander verflochtenen deutschen Nachkriegsstaaten bleibt aufzuklären - um sie endlich hinter sich zu lassen.

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