Der Fall Karl-Heinz Kurras:Bitte, bitte nicht schießen!

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Die alten Glaubenskämpfe um die 68er-Bewegung sind noch immer nicht ganz zu Ende, wie die Kurras-Debatte zeigt. Dabei sind sich die Kontrahenten im aufregendsten Punkt einig.

Heribert Prantl

Die Jahre 1967 ff. waren Jahre des lodernden Irrglaubens in der Geschichte der Bundesrepublik. Der noch junge, aber schon satt gewordene Staat glaubte, in den protestierenden Studenten so etwas wie die neuen apokalyptischen Reiter zu erkennen. Und die protestierenden Studenten glaubten, dieser Staat der Alten sei unrettbar verseucht von Ex-Nazis, ihren Epigonen und einem reaktionären Geist.

Studenten demonstrieren am 5. Juni 1967 in München aus Anlass des Todes von Benno Ohnesorg (Foto: Foto: AP)

Es waren Glaubenskämpfe. Jeder glaubte vom anderen das Schlechteste: Die Studenten glaubten das Schlechteste vom Staat und von der Mehrheitsgesellschaft. Der Staat und die Mehrheitsgesellschaft wiederum glaubten das Schlechteste von der Studentenbewegung. Beide glaubten sich in einer Lage, die Notwehr rechtfertigt; beide praktizierten sie.

Und es ist durchaus bezeichnend, dass eines der großen politischen Streitthemen damals die Notstandsgesetzgebung war. Die eingebildete Notwehr, also die Putativnotwehr der einen Seite, provozierte mental und real die Notwehr der jeweils anderen.

Die alten Glaubenskämpfe sind immer noch nicht ganz zu Ende, wie der Streit über die nach 42 Jahren bekannt gewordene SED-Mitgliedschaft des Westberliner Polizisten Kurras zeigt. Der Streit wird über die Frage geführt: Was wäre gewesen, wenn schon damals, 1967, bekannt gewesen wäre, dass der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss, ein Doppelagent war?

Es geht um die Deutungshoheit nicht über irgendeinen Tag. Es geht um die Deutungshoheit über die ganze Studentenbewegung, die in Deutschland eigentlich 67er, nicht 68er Bewegung heißen müsste. Dieser Tag ist ihr Alpha. Der 2. Juni 1967 steht für einen Putativnotwehrexzess des Staates. Die Gerichtsmedizin stellte fest: Kaliber 7,65; Kugel oberhalb des Ohransatzes in den Kopf gedrungen; Blutergüsse an allen Körperteilen. Die Blutergüsse stammten von der Berliner Polizeiführung.

Die Kugel stammte aus der Waffe des Polizeiobermeisters Kurras. Benno Ohnesorg soll vor Kurras' Schuss gerufen haben: "Bitte, bitte, nicht schießen." So schrieb es der Spiegel-Gerichtsreporter Gerhard Mauz.

Der Notwehrexzess bestand nicht erst in diesem Todesschuss, sondern schon in der Taktik der Berliner Polizeiführung und in der von ihr geförderten und geforderten Knüppelsucht der Polizisten. Die Erschießung des Studenten Ohnesorg war ein Exzess in diesem Exzess; dieser Kurras-Exzess ist ohne den ersten und ohne die allgemeine Scharfmacherei kaum denkbar.

Nach der Stasi-Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Tat des Doppelagenten Kurras auch für die Stasi ein Exzess war. Die Studenten demonstrierten gegen das Folterregime des Schahs von Persien. Sie agitierten gegen einen Staatsgast, über den Heinrich Albertz, der Regierende Bürgermeister von Berlin, bei der letzten Sitzung des Senats vor der Ankunft des Potentaten gesagt hatte: "Lasst mich mit diesem Tyrannen nicht allein." Er hat erst später verstanden, dass die rabaukigen Studenten ihm bei diesem Anliegen näher standen als sein militanter Polizeipräsident.

Stasi-Agent erschoss Studenten
:Der Tod des Benno Ohnesorg

1967 starb der Student Benno Ohnesorg in BerliBerlin durch eine Polizeikugel - und wurde zur Ikone des Studentenprotests.

Dem Soziologen Niklas Luhmann wird der Satz zugeschrieben, der Schuss des Polizisten Kurras habe eine ganze Generation "aus der Gesellschaft hinausgeschossen". Ein solcher "Erfolg" aber ist nicht die Tat eines Einzelnen.

Dies ist quasi eine amtliche Erkenntnis: In den "Analysen zum Terrorismus", 1984 vom Bundesministerium des Inneren herausgegeben, steht im Band 4 zu lesen: Die politische und staatliche Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung sei zunehmend charakterisiert gewesen "durch Regel- und Rechtsverletzungen auf Seiten der Träger und Instanzen staatlicher Kontrolle, die weitgehend ungeahndet und unverfolgt blieben".

Die frühe Wahrheit über Kurras hätte also wohl eine Reihe von West-Intellektuellen davon abgehalten, in die DKP einzutreten. Sie hätte womöglich auch der Agitation der Springer-Presse gegen die Studentenbewegung eine Zeitlang eine andere Richtung gegeben. Im Übrigen kann sie wohl hinweggedacht werden, ohne dass sich an der Radikalisierung der Szene etwas Entscheidendes ändert.

Einig sind sich alle "Was wäre gewesen, wenn?"-Kommentatoren in einem Punkt: Wäre damals bekannt gewesen, dass Kurras Kommunist ist, dann wäre er vom Landgericht Berlin nicht freigesprochen worden. Das Gericht hätte ihn ohne großes Federlesen verurteilt, nicht nur wegen fahrlässiger Tötung, sondern wohl wegen Totschlags.

Diese Gewissheit ist das eigentlich Aufregende an der aktuellen Diskussion. Sie zweifelt nicht mehr daran, wie parteiisch die Justiz damals war, sie zweifelt nicht mehr daran, dass der Freispruch für Kurras ein Justizskandal war. Die Justiz damals war Teil der staatlichen Putativnotwehrfront, sie war Mitkämpferin im Kalten Krieg. Die Grundrechte standen unter Weltanschauungsvorbehalt.

Das hat sich grundlegend geändert - die Justiz lässt sich nicht mehr so einfach einspannen für angebliche staatliche Sicherheitsinteressen; das Bundesverfassungsgericht bürgt dafür. Diese Sensibilität der dritten Gewalt gehört zu den wichtigen Ergebnissen der Glaubenskämpfe von 1967 ff. Wem das Hauptverdienst an dieser Entwicklung zusteht, ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie anhält.

© SZ vom 29.05.2009/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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