Der Erfolg des Kandidaten:Bürger Gauck

Seit Willy Brandt hat kein Politiker mehr so viel spontane Sympathie auf sich gezogen wie Joachim Gauck. Ihm gelingt, woran Merkel und Westerwelle beständig scheitern: Der Bürgerrechtler begeistert die Mitte der Bevölkerung. Seine Biographie und sein Redetalent allein können das nicht erklären.

Gustav Seibt

Das parteipolitische Kalkül, das hinter der Nominierung von Joachim Gauck fürs Amt des Bundespräsidenten natürlich stand, ist in glänzender Weise aufgegangen, und zwar in beide Richtungen: Die Einheit im Regierungslager wurde durch das brillante Manöver von Grünen und Sozialdemokraten nachdrücklich in Gefahr gebracht; und die Linkspartei wurde für die Augen jedenfalls der urbaneren Teile der gesamtdeutschen Gesellschaft ihrer konzeptionellen Nichtigkeit überführt.

German Presidential Elections

Vertreter der urban-grün-liberalen Mitte Deutschlands: die Schauspielerinnen Martina Gedeck und Nina Hoss (erste Reihe rechts) und der Regisseur Sönke Wortmann (hintere Reihe links) in der Bundesversammlung. Alle drei haben für Joachim Gauck gestimmt.

(Foto: getty)

Diesen Eindruck hat Gregor Gysi durch seinen denkwürdigen Auftritt am Mittwoch vor dem dritten Wahlgang im Reichstag befestigt, als er den grünen Abgeordneten Werner Schulz, einen DDR-Bürgerrechtler, der sich einen kritischen Einwurf zur Enthaltung der Linken erlaubt hatte, vor laufenden Kameras auf eine so autoritär höhnende Weise abfertigte, dass die ohnehin locker sitzende Maske demagogisch plappernder Bonhomie minutenlang abfiel.

In diesen Minuten wurde die Wahrheit hinter der Taktik der Linkspartei offenkundig: Warum hätte ein Gysi, Sohn des Kirchenstaatssekretärs der DDR, für einen renitenten Pastor stimmen sollen, wenn dessen Unterstützer nicht einmal bereit waren, den Funktionär Gysi und die Seinen frühzeitig "anzurufen"? Einen größeren Gefallen hätte Gysi der rot-grünen Konkurrenz gar nicht machen können, als er es mit dieser wütenden Beschwerde tat.

Der große öffentliche und am Ende nicht nur taktische Erfolg, den die Nominierung Gaucks zeitigte, hat einen Hintergrund, der über den parlamentarischen Parteienkampf hinausweist. Vielfach wurde Gauck als "konservativer" Kandidat beschrieben, der eben deshalb die Einheit im schwarz-gelben Lager so eindrucksvoll stören konnte. Aber es ist fraglich, ob diese Beschreibung den Vorgang zutreffend erfasst. Joachim Gauck, der Bürgerrechtler, ist vor allem ein Bürger im politischen Sinn. Er vertritt einen Liberalismus, der sich vom Mittelstands- und Klientel-Liberalismus der FDP, der seit Jahren den Citoyen gegenüber dem Bourgeois vernachlässigt, scharf abhebt.

So lässt sich Gauck in vielen Zügen ebenso gut als linker Bürger beschreiben wie als Konservativer. Die Impulse, die seiner Popularität so zugutekommen, sind heute sogar am ehesten bei den Grünen zu finden, die längst zu einer bürgerlichen Partei geworden sind und - nicht zuletzt in Südwestdeutschland - das Erbe des lokalen, in Vereinen und für konkrete Anliegen engagierten klassischen Honoratiorenliberalismus angetreten haben.

Dieser links-konservativ-bürgerliche Grünenliberalismus ist stark bildungsbürgerlich geprägt, und er passt auch zu jenen Schichten, die in gentrifizierten Stadtquartieren wie dem Prenzlauer Berg in Berlin oder Haidhausen in München modernisierte Familienwerte wiederentdecken, dort die Kirchen mit jungen Leuten füllen und auf nichts so kritisch blicken wie die Schulpolitik in ihrem jeweiligen Bundesland.

Gauck, der Mann der Mittelschicht

Dieses moderne, oft als "kreativ" beschriebene, bürgerrechtlich wache, ökologisch bewusste, aber in Fragen von Partnerschaft, Ehe und Familie wieder eher konservative Publikum (in dem die Schwulen, die sich standesamtlich trauen lassen, eine symbolische Rolle spielen), verteilt sich in den großen Städten inzwischen auf alle Parteien, es ist in der CDU Ole von Beusts ebenso zu Hause wie bei den Grünen oder der Wowereit-SPD.

Joachim Gauck ist viel eher der Mann dieser gut ausgebildeten Mittelschicht als der eines Phantom-Konservativismus, dem Roland Koch mit seiner gescheiterten Wahlkampagne gegen straffällige Ausländer nachjagte. In Bayern ist es diese Schicht, die das Rauchverbot-Referendum gegen den Bierzelt-Populismus der CSU erzwang und die derzeit schwer unzufrieden ist mit der überstürzten Einführung des achtjährigen Gymnasiums.

In diesem aufgeklärten, in vielen Zügen kulturell stromlinienförmigen Publikum wächst seit einigen Jahren ein Ungenügen am berufspolitischen Parteienbetrieb wie er - prägnant kann man es nicht nennen - von der ewig taktierenden Angela Merkel verkörpert wird. Es dürfte auch das Publikum sein, das dem gut angezogenen und sich prononciert untaktisch gerierenden Baron Karl-Theodor zu Guttenberg nachhaltig hohe Umfragewerte beschert, und das allergisch reagiert auf die verpanzerte Starrheit Westerwelles.

Dazu kommt ein ewiger Mechanismus der parlamentarischen Demokratie, der in der noch nicht langen Geschichte der Bundesrepublik jetzt zum ersten Mal wirksam wird: Je vielgliedriger und damit unberechenbarer das Parteiensystem wird, umso größer wird die Anziehungskraft für plebiszitäre Sehnsüchte. Die übergreifende Popularität des fatalen Reichspräsidenten Hindenburg - getreu der Weimarer Verfassung wurde er direkt vom Volk gewählt - verdankte sich auch dem Hintergrund eines Parteiengezänks mit unentwegt wechselnden Konstellationen, die Politik zu einer Angelegenheit der Hinterzimmer machten. Auch der Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems unter den Stößen von Berlusconi und Bossi zeigt diesen Mechanismus.

Wählen als Gesellschaftsspiel

Von Weimarer Parteienverhältnissen ist die Bundesrepublik weit entfernt, und sie wird es dank der Fünfprozentklausel auch bleiben. Gleichwohl haben die dauerhafte Etablierung der Linkspartei und das Abschmelzen der Volksparteien zu unberechenbaren Konstellationen geführt, bei denen viele Wähler nicht mehr wissen können, was sie mit ihrer Stimme eigentlich bewirken: Ampel, Jamaika, große Koalition, Schwarz-Gelb, Rot-Grün, vieles scheint möglich, und vor der letzten Bundestagswahl hat der "Wahlomat" im Internet daraus ein Gesellschaftsspiel gemacht.

Bei dieser Wahl wusste nur, wer FDP wählte, ganz genau, wofür er stimmte, nämlich für Schwarz-Gelb und gegen die große Koalition. Und dies war einer der Gründe für den hohen Stimmenanteil der Liberalen, den diese dann auf so hoffährtige Weise überschätzten. Dass sie dafür so umgehend bestraft wurden, beweist rückwirkend den vielfach taktischen Charakter der FDP-Stimmen, die mutmaßlich gar nicht so präzise für Steuersenkungen gemeint waren, sondern eher zur Abwahl von Schwarz-Rot dienen sollten.

In dieser Situation wächst ein Ungenügen am Parteienbetrieb, das fatal ist, weil es der Knochenmühle, zu der Politik als Beruf heute geworden ist, überhaupt nicht gerecht wird. Von dieser Stimmung aber konnte Joachim Gauck mehr profitieren als von spezifischen Positionen, die man ihm zuschreiben könnte. Dass er durch seine Person, seine Herkunft, sein beeindruckendes rednerisches Talent, einer solchen überparteilichen, aber deswegen nicht ortlosen Rolle brillant gerecht wurde, machte den öffentlichen Erfolg komplett.

Moderne, engagierte, und nun erstmals wieder plebiszitär gestimmte Bürgerlichkeit, das ist es, was die überwältigende Resonanz auf Joachim Gaucks Kandidatur ans Licht brachte. Und das ist schon etwas Neues in der jüngeren deutschen Demokratiegeschichte. Wann hätte nach der Willy-Brandt- Wahl von 1972 eine Person so viel spontane Sympathie auf sich gezogen wie Joachim Gauck?

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