Der Deutsche Herbst 1977:Tage des Schreckens

Es war eine Zeit, die unruhig war und seltsam. Eine Zeit, die merkwürdige Worte gebar, die man bis dahin kaum gehört hatte: der Herbst 1977. Ein Polizist und ein Ex-Terrorist blicken zurück.

Stefan Klein

Köln, im August. Vor dem deutschen Herbst kommt der deutsche Sommer, und der ist an diesem Tag mal wieder ausgesprochen nass. In der Vincenz-Statz-Straße tropft es von den Bäumen, in der Raschdorffstraße nebenan ist es nicht anders.

Der Deutsche Herbst 1977: Klaus Jünschke war Mitglied der RAF, im Gefängnis sagte er sich vom Terror los.

Klaus Jünschke war Mitglied der RAF, im Gefängnis sagte er sich vom Terror los.

(Foto: Foto: Regina Schmeken)

Es sind ruhige Straßen in einem ruhigen Viertel; man sieht an den Autos und an den Häusern, dass hier wohlhabende Menschen leben.

Ein Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände muss sich mit dieser Adresse nicht schämen. Im Haus Raschdorffstraße 10 hat Hanns Martin Schleyer damals gewohnt, aber weil die eine Einbahnstraße ist, musste sein Fahrer Heinz Marcisz jedes Mal einen Schlenker machen durch die Vincenz-Statz-Straße. Das war Routine, auch am 5. September 1977, einem sonnenwarmen Spätsommertag, nur dass diesmal in der Straße eine tödliche Falle aufgestellt worden war.

Es ging auf 17.30 Uhr, als Marcisz den ungepanzerten Mercedes 450 mit Schleyer im Fond in die Vincenz-Statz-Straße lenkte. Weil Schleyer als gefährdet galt, folgte wie gewohnt ein weiterer Mercedes mit einem dreiköpfigen Begleitschutz darin.

Was dann passierte, war ein minutiös geplanter und kalt exekutierter Überfall, an dessen Ende vier Menschen von Kugeln durchsiebt waren. Der fünfte war zum Entführungsopfer geworden. Zurück blieben zerschossene, blutverschmierte Limousinen und mitten in dem Chaos ein Kinderwagen.

Begeisterter Hobbygärtner

Der hatte den Entführern als Waffenversteck gedient und als Mittel, um die Schleyer-Kolonne zum Stehen zu bringen. Eine stille Straße, wie gesagt, friedlich, bürgerlich. Wäre das Holzkreuz nicht, das Denkmal mit den fünf Fotos, man würde es nicht glauben. Unvorstellbar, würde man sagen.

Vieles scheint nur schwer vorstellbar in diesen Tagen - zum Beispiel auch, dass dieser freundliche, ältere Herr, der ganz offensichtlich ein begeisterter Hobbygärtner ist, 16 Jahre seines Lebens in Gefängniszellen gesessen haben soll. Dass es Zeiten gab, als sein Name Klaus Jünschke mit Abscheu ausgesprochen und von den Zeitungen immer nur im Zusammenhang mit Mord und Totschlag und Terror genannt wurde.

Auch hier oben ist es ruhig. Die Dachwohnung von Klaus Jünschke und Christiane Ensslin ist ein Nest über der Stadt, und am schönsten ist das Nest auf der Dachterrasse, wo Jünschke einen Sommergarten angelegt hat. Aus den vielen Kübeln wächst, was man sich nur wünschen kann: Birnen und Äpfel, Brombeeren und Himbeeren, Feigen, Oliven und jede Menge Gewürze. Leider sei der Oleander etwas zerzaust, sagt Jünschke. Der nasse Sommer.

Fast würde man es eine Idylle nennen, eine winzige allerdings. Aber die Enge sei für Christiane und ihn kein Problem, sagt Klaus Jünschke, und dass es so ist, mag auch daran liegen, dass er in seinem Leben lernen musste, mit wenig Raum auszukommen - mit sehr viel weniger als er jetzt hat. 16 Jahre acht Quadratmeter.

Kassiber, Rasterfahndung, Zwangsernährung

Dies ist eine Geschichte, die ein Stück zurückführt in der deutschen Geschichte. Sie führt in eine Zeit, die unruhig war und seltsam. So seltsam, dass zum Beispiel das harmlose und eher freundliche Wort Sympathisant einen dunklen, gefährlichen Klang bekam. Es war eine Zeit, in der man Staatstreue daran zu erkennen glaubte, ob einer, wenn er über die Baaders und Meinhofs jener Zeit redete, das Wort Gruppe oder das Wort Bande benutzte.

Es war eine Zeit, die merkwürdige Worte gebar, die man bis dahin kaum gehört hatte. Kassiber hießen die, Rasterfahndung, Zwangsernährung, Isolationsfolter. Wohnungen wurden plötzlich mit dem Adjektiv konspirativ versehen, das Wort Umfeld mit dem Wort geistig, und wenn einer im Verdacht stand, zum geistigen Umfeld des Terrorismus zu gehören, hatte er ganz schlechte Karten - selbst wenn er ein weltberühmter Schriftsteller war und Heinrich Böll hieß.

Es war eine Zeit, in der Intellektuelle, Künstler, Journalisten sich schon mal bang fragten, was sie wohl machen würden, wenn es plötzlich klingeln und die gejagte Ulrike Meinhof vor der Tür stehen würde.

Tage des Schreckens

Der Reformpädagoge und Publizist Hartmut von Hentig hat in seinen Memoiren gerade die Antwort darauf gegeben. Er hätte sie eingelassen, schreibt er, ihr sein Gästezimmer angewiesen, ihr etwas zu essen angeboten und dazu Folgendes gesagt: "Sie können hier 48 Stunden bleiben und sich ausruhen. Danach werde ich weitere 24 Stunden vergehen lassen und mich dann selbst der Polizei stellen. Keine Gespräche in dieser Zeit. Ich will wahrheitsgemäß sagen können: 'Ich weiß nichts.'"

Der Deutsche Herbst 1977: Der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer in RAF-Gefangenschaft (Archiv).

Der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer in RAF-Gefangenschaft (Archiv).

(Foto: Foto: AP)

Asyl gewähren und gleichzeitig den Staat nicht verraten - es konnte ein anstrengendes Stück Arbeit sein, mit seinem Gewissen klarzukommen.

Alles, was nicht konform war, was einen Bart trug und lange Haare, in einer Kommune lebte, politisch linke Ansichten vertrat oder sonst aus dem gutbürgerlichen Rahmen fiel, war verdächtig. Aber auch wer nicht verdächtig war, konnte keineswegs sicher sein vor den dauernden Kontrollen und Überprüfungen.

"Ach, die Judde..."

Denunziantentum gedieh, die Hysterie war groß, nicht nur den Terroristen, auch den Polizisten saß die Pistole locker, und wenn es mal den Falschen traf, dann traf es eben den Falschen. Wie es halt ist, wenn gehobelt wird. Es war eine Zeit, in der der Staat gewaltig aufrüstete gegen seine tatsächlichen oder auch vermeintlichen Feinde, eine Zeit, in der ein Kanzler Schmidt beinahe klein und ein Polizist Schmitt beinahe groß geworden wäre, eine Zeit auch, in der es für einen Klaus Jünschke keinen anderen Platz gab als die Zelle.

Jünschke entstammt einer bürgerlichen Familie aus Mannheim. Der Vater war Beamter bei der Bahn. Der Krieg hatte ihn ein Bein gekostet, und doch habe er ihn, sagt der Sohn, als die schönste Zeit seines Lebens erlebt. Wenn Klaus ihn fragte nach dem, was gewesen war im Dritten Reich, dann sagte er nur: "Ach, die Judde . . ." Er wollte nicht reden.

Sohn Klaus war bei den christlichen Pfadfindern, später wurde er Kriegsdienstverweigerer, und das war nicht die letzte Enttäuschung für den Vater. Klaus schrieb sich für ein Psychologiestudium ein und landete beim SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Es war die Zeit des Vietnamkriegs, und Jünschke sah die US-Kasernen in Mannheim plötzlich mit anderen Augen. Er las in Maos Bibel, er las über die Befreiungsbewegungen in der Welt, er rief "Sieg im Volkskrieg!", und irgendwann sah er sich selber im Krieg, als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF).

Der Kriegsdienstverweigerer von einst trug nun eine schwere Parabellum, Kaliber 9-Millimeter, an die er sich schwer gewöhnte. Manchmal rutschte sie ihm das Hosenbein hinunter. Ulrike Meinhof zeigte ihm, wie man mit Wasserstoffsuperoxyd aus schwarzen Haaren blonde macht.

Es war eine ständige Maskerade, der größte Schock aber war die plötzliche Einsamkeit. Vorher hatte er mit vielen anderen in einem besetzten Haus in Heidelberg gewohnt, nun war er meistens auf sich allein gestellt. Nachdem die RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof im Sommer 1972 gefasst worden waren, stellte die Zeitung mit den großen Buchstaben Jünschke als "neuen Chef der Baader-Meinhof-Bande" vor und beschrieb ihn, weil er mal Karate gelernt hatte, als "Meister des lautlosen Tötens". Kurz danach war Jünschke selber in Haft. Er war 24 Jahre alt.

Tage des Schreckens

Heute, als knapp 60-Jähriger, sagt er: "Wir waren in einem Milieu, wo die weltrevolutionäre Gesinnung blind gemacht hat für die realen Verhältnisse." Das Morden sei "heillos" gewesen und die Vorstellung, man könne auf diese Weise zum Besseren in der Welt beitragen, ein "verheerender Irrtum". Der Kapitalismus gehe für Profit über Leichen, hätten sie gesagt - und bei ihren Banküberfällen genau das Gleiche gemacht.

Jünschke sagt aber auch, dass der Staat zur Eskalation des Konflikts entscheidend mit beigetragen habe, und vielleicht ist ja das, was nach seiner Verhaftung geschah, ein Beleg dafür. Er kam als Untersuchungshäftling in die Justizvollzugsanstalt Zweibrücken, und zwar in eine Zelle, wo es keine Nachbarn gab. Links und rechts, darüber, darunter, alles hatte man freigeräumt.

Beim Hofgang war er allein mit drei Beamten, Familienbesuch war nur alle zwei Wochen gestattet, jeweils eine halbe Stunde. Jünschke wurde krank. Im Kopf. Weil er Angst hatte, den Verstand zu verlieren, rechnete er stundenlang das kleine Einmaleins oder stand am Waschbecken und klatschte sich Wasser ins Gesicht.

Er roch Gas in der Zelle, er hörte Stimmen, er konnte sich nicht mehr artikulieren, und wenn er es doch konnte, dann nur in der übelsten Form. Im Stammheim-Prozess, wo er als Zeuge vernommen wurde, nannte er die Bundesanwälte dreckige Faschisten und Schweine. Er stürzte sich auf den Vorsitzenden Richter und schrie: "Für Ulrike, du Schwein."

Ulrike Meinhof hatte kurz zuvor Selbstmord begangen, und die Haftbedingungen zumindest der ersten Monate, als sie noch in Köln-Ossendorf eingesperrt war, könnten dabei durchaus eine Rolle gespielt haben. Da saß sie nämlich im sogenannten toten Trakt in einer akustisch isolierten und rund um die Uhr beleuchteten Zelle.

In ihrer Verzweiflung soll sie manchmal nachts aus dem Fenster gerufen haben: "Hier spricht die Meinhof! Hier spricht die Meinhof!" Die Gefangene hielt es nicht aus, eine Wärterin ebenfalls nicht. Sie soll darüber verrückt geworden sein.

"Wenn man bei der RAF ist, kann man nichts unschuldig sein"

Des Häftlings Jünschke nahm sich Amnesty International an, und selbst die Vollzugsbeamten hatten Mitleid. Einer entschuldigte sich, ein anderer schmiedete sogar Pläne zu seiner, Jünschkes, Befreiung. Aber er wurde verpfiffen und bekam ein Verfahren an den Hals. Die RAF-Gefangenen wehrten sich mit Hungerstreiks, die Gefängnisse reagierten mit Zwangsernährung.

Fünfmal hat Jünschke den Hungertod riskiert, einmal war er nahe am Koma. Es waren diese Zustände in den Gefängnissen, die der RAF draußen immer neue Sympathisanten zutrieben und so die deutsche Stadtguerilla am Leben hielten. Jünschke sagt, ohne die Haftbedingungen, ohne die als Folter empfundene Isolation hätte es keine zweite und dritte RAF-Generation gegeben.

Verurteilt wurde er 1977 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen eines Banküberfalls in Kaiserslautern, bei dem ein Polizist erschossen worden war. Es war ein höchst fragwürdiger Indizienprozess mit einem noch fragwürdigeren Urteil. Jünschke äußert sich nicht zur Tat, aber er sagt, es sei schon bitter.

In NS-Prozessen seien Wärter von Vernichtungslagern freigesprochen worden, wenn man ihnen nicht nachweisen konnte, einen Menschen persönlich umgebracht zu haben. Bei ihm sei sogar ausdrücklich festgestellt worden, dass er nicht geschossen habe, trotzdem sei die Höchststrafe verhängt worden. Einerseits. Andererseits habe er nie behauptet, unschuldig zu sein, denn: "Wenn man bei der RAF ist, kann man nicht unschuldig sein."

Tage des Schreckens

Wann solche Erkenntnisse bei Jünschke reiften, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Tatsache aber ist, dass er sich im Gefängnis von der RAF löste und in den achtziger Jahren in einem offenen Brief ihre "Barbarei" anprangerte und fragte: "Wie viele Menschen wollt ihr noch unglücklich machen?"

Den Genossen war allerdings schon sehr viel früher klar, dass sie auf Jünschke nicht mehr zählen konnten. Als nach der Entführung des Hanns Martin Schleyer, der "Big Raushole", wie sie in der Szene hieß, von den Tätern die Namen der RAF-Häftlinge präsentiert wurden, die im Austausch gegen Schleyer freigelassen werden sollten, da stand der Name Jünschke nicht mehr auf der Liste.

Die dramatischen Ereignisse des sogenannten Deutschen Herbstes, die Entführung Schleyers, die anschließende Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut mit 86 Passagieren an Bord, all das erlebte Jünschke am Radio in seiner Zelle bereits mit innerem Abstand.

Deutschland aber hielt den Atem an. Für die junge Republik war es die ganz große Krise. Für Helmut Schmidt, den Kanzler, hätte sie mit dem Rücktritt enden können, für Ferdinand Schmitt, den Polizeibeamten, im Heldentum.

Erftstadt ist ein Ort 20 Kilometer südwestlich von Köln, da lebt der pensionierte Polizist, da hatte er früher, im Ortsteil Liblar, seinen Dienstbezirk. Er kannte dort jedes Haus, und als es nach der Schleyer-Entführung hieß, nun seien überall im Raum Köln Großwohnanlagen zu überprüfen, da machte er sich auf den Weg. "Isch führte den Auftrag aus", sagt er, immer noch ganz der korrekte Beamte, und eines der ersten Gebäude, das er sich vornahm, trug die Adresse Zum Renngraben 8:

16 Stockwerke, in jedem Stockwerk acht Wohnungen. Als Schmitt mit dem Streifenwagen vorfuhr, sah er den Hausmeister Korn. Er war beim Kehren der Straße.

"Morjen, Herr Korn, sinnse fleissisch?"

"Jo, ma hätt ja immer wat ze donn. Wat wolln Sie dann he?"

"Isch suche dä Aufenthaltsort vom Schleyer."

"Un wie soll isch Ihnen da helfen?"

Polizeiarbeit der ganz alten Schule. Dorfschule, möchte man sagen. Und das in einem Land, das unter dem Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, die Fahndungsarbeit mittels elektronischer Datenverarbeitung revolutioniert hatte. Rasterfahndung, beobachtende Fahndung, verdeckte Fahndung, Vorrangfahndung, Zielfahndung, man konnte denken, es wüsste die Polizei von der Tat schon vor dem Täter.

Alles schien Herolds elektronisches Superhirn zu wissen, nur den Aufenthaltsort des entführten Schleyer, den wusste es nicht. Doch es gab ja noch den Polizisten Schmitt, und der war sich nach dem Gespräch mit Korn und zwei weiteren Gesprächen ziemlich sicher, wo sich Schleyers "Volksgefängnis" befand: In eben jenem Hochhaus Zum Renngraben 8, im dritten Stock, links vom Aufzug, in der Drei-Zimmer-Wohnung mit der Nummer 104.

Die war ein paar Wochen zuvor von einer Frau namens Annerose Lottmann-Bücklers gemietet worden. Sie hatte die Kaution gleich bar bezahlen wollen und war dabei durch ein dickes Geldbündel in der Handtasche aufgefallen.

Als der Polizist Schmitt diese Informationen gesammelt hatte, sagte er zu sich: "Dat is joot, watte da erfahren hast." Es war sogar sehr gut, und es hätte Schleyers Leben retten können. Wäre der Name Annerose Lottmann-Bücklers in einen von Herolds Computern eingespeist worden, es hätten sich eine ganze Reihe von Verknüpfungspunkten mit der RAF ergeben.

Tage des Schreckens

Doch das Fernschreiben mit dem entscheidenden Tipp für die Schleyer-Sonderkommission ging im Chaos des Fahndungswirbels verloren. Man muss sich das vorstellen: Schmitt und Kollegen standen gewissermaßen vor dem Versteck von Deutschlands meistgesuchtem Mann, aber niemand wollte es wissen.

Der brave Polizist Schmitt hätte die Sache am liebsten auf eigene Faust gelöst: "Tür auf, aus, Ende", aber man habe ja nichts zu sagen gehabt. Zumindest hätte man die Sicherungen herausdrehen sollen, sagt er, "ohne Strom hätten die sich doch melden müssen". Oder das Wasser abstellen.

Schmitt hatte Ideen, aber sein Chef sagte, Finger weg, das sei alles Sache der Sonderkommission. Nur, wo war die Sonderkommission? Einmal, sagt Schmitt, sei er als Zeitschriftenwerber verkleidet in den dritten Stock gefahren und hätte an der Wohnung 104 geklingelt. Man weiß aus dem Buch von Stefan Aust zum "Baader-Meinhof-Komplex", was danach hinter der Tür passierte: Der Terrorist Peter-Jürgen Boock "griff zur Maschinenpistole und spannte sie, um Schleyer deutlich zu machen, dass er sich völlig still zu verhalten habe. Der Entführte begriff den Ernst der Lage und rührte sich nicht. Die Schritte draußen entfernten sich wieder."

Rückfällig wird keiner

Ein Spätsommer damals, ein Spätsommer heute. Schleyer wäre am 1. Mai 92 geworden. Wer ihn damals ermordet hat, ist bis heute nicht geklärt. Von den 20 RAF-Mitgliedern, die an seiner Entführung beteiligt waren, sind zwei von der Polizei erschossen worden, eine Frau gilt als verschollen, 17 wurden gefasst und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Inzwischen sind bis auf Christian Klar alle wieder frei.

Rückfällig wurde keiner, wie auch? Klaus Jünschke sagt: "Die Leute können sich gar nicht vorstellen, was so eine lange Haft für einen bedeutet." Die seine ging 1988 durch Begnadigung zu Ende. Es war Bernhard Vogel, CDU-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, der ihm den Weg zurück in die Gesellschaft bahnte, und es war Hanns Eberhard Schleyer, Sohn des Hanns Martin Schleyer und unter Vogel Chef der Staatskanzlei, der dem ausdrücklich zustimmte.

Jünschke hatte Glück. Er hatte noch während der Haft Christiane Ensslin, die ältere Schwester des RAF-Gründungsmitglieds Gudrun Ensslin kennengelernt. Selbe Familie, anderes Leben: Christiane Ensslin war nie bei der RAF, auch wenn Volkes Stimme sie am liebsten in Sippenhaft genommen hätte. Über ein Buch, das sie redigierte und für das Jünschke einen Beitrag verfasste, lernte man sich kennen, und als Jünschke dann seinen ersten Freigang hatte, lernte man sich noch ein bisschen besser kennen. Ihr gehörte das kleine Nest über Köln, und sie hielt es warm, bis Klaus Jünschke kam.

Wuppertal, Internationales Begegnungszentrum der Caritas. Eine Tagung soll hier stattfinden, das Thema: Christen und Muslime im Strafvollzug. Der Hauptreferent ist aus Köln angereist, er heißt Klaus Jünschke. Er hat in diesen Dingen einen Ruf als Experte, und das nicht etwa nur, weil er Haft aus eigener Erfahrung kennt. Jünschke hat noch im Gefängnis ein Studium der Sozialwissenschaften angefangen und es in Freiheit abgeschlossen.

Empörung bleibt

Heute arbeitet er mit straffälligen Jugendlichen, mit benachteiligten Migrantenkindern und schreibt Bücher darüber. Für seine Arbeit im "Kölner Appell gegen Rassismus" bekam er vor Jahren einen vom damaligen Innenminister Otto Schily initiierten Preis, doch prompt gab es eine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wie man denn eine Organisation auszeichnen könne, in deren Vorstand ein ehemaliger Terrorist sitze.

Es ist alles nicht so einfach, auch deshalb nicht, weil die Folgen der Haft noch immer nachwirken in Form von plötzlichen Angstzuständen und Schmerzen. Eine dreijährige Therapie, immerhin, hat Linderung verschafft. Aber lebt er denn heute, wenn schon nicht mit sich selber, so doch im Frieden mit der Welt? Nein, sagt Jünschke und spricht das Ausrufezeichen gleich mit. Jünschke ist Globalisierungsgegner, das Elend in Afrika treibt ihn um.

Die RAF hat er längst abgeschüttelt, aber das, was ihn und seine Gesinnungsfreunde ursprünglich mal angetrieben hat, als sie noch einen moralischen Anspruch hatten und noch keine erbarmungslosen Killer waren, hat er sich erhalten - die Empörung über Ausbeutung und Unterdrückung und all die anderen Ungerechtigkeiten dieser Welt.

Jetzt freilich geht es um den Strafvollzug, auch das ein düsteres Kapitel. Der Integrationsbeauftragte der Landesregierung spricht ein paar belanglose Worte, und dann wird Jünschke vorgestellt - ein paar Daten über sein Leben, kein Wort über die RAF, keines über die Haft.

Das holt Jünschke dann selber nach, als er auf dem Podium steht. Er schleicht nicht herum um seine Geschichte, er bekennt sich. Jünschke redet 45 Minuten, anschließend lobt der Moderator der Tagung sein "fundiertes Wissen", von dem jedoch der Integrationsbeauftragte leider nicht hat profitieren können. Er ist gleich nach dem Stichwort RAF gegangen.

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