Der Deutsche Herbst (Tag 1):Die Entführung Schleyers

Vor 30 Jahren entführte die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Die folgenden Tage gingen als der "Deutsche Herbst" in die Geschichte ein.

Robert Probst

Im Herbst vor 30 Jahren stand die Bundesrepublik vor einer ihrer bislang größten Herausforderungen. Die Rote-Armee-Fraktion (RAF), die im April Generalbundesanwalt Siegfried Buback und im Juli den Bankier Jürgen Ponto ermordet hatte, entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ziel war es, die verurteilten RAF-Anführer aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim freizupressen. Die Süddeutsche Zeitung dokumentiert die dramatischen Tage der Schleyer-Entführung, vom 5. September bis zum 19. Oktober, für die sich als Begriff "Deutscher Herbst" eingeprägt hat. Geschildert werden Ereignisse - wie die Reaktion der Regierung und die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut -, politische Einschätzungen von damals und heute sowie neue Erkenntnisse der Zeitgeschichte. Die Serie erscheint täglich.

Tatort der Schleyer-Entführung, dpa

Wo alles begann: der Tatort der Entführung

(Foto: Foto: dpa)

Bis zur Haustür in der Raschdorffstraße 10 wären es noch 300 Meter gewesen. Im Kölner Villenviertel Braunsfeld hat der Vorsitzende des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hanns Martin Schleyer, seinen Zweitwohnsitz genommen. Seit dem Mord an dem Bankier Jürgen Ponto am 30. Juli gilt für Schleyer "Sicherheitsstufe 1", bewaffnete Personenschützer begleiten den 62-Jährigen; bei der Roten-Armee-Fraktion (RAF) steht er ganz oben auf der Liste der Vertreter des verhassten Kapitalismus.

Das Haus mit Schleyers Wohnung liegt in einer Einbahnstraße, die Bewacher können also nicht wie üblich ihre An- und Abfahrtswege variieren. Am Montag, 5. September, macht sich Schleyer in seinem ungepanzerten Mercedes 450 auf den Weg vom Büro in den Feierabend. Am Steuer sitzt sein Fahrer Heinz Marcisz, 41. In einem zivilen Mercedes 280 E folgen die Personenschützer des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Reinhold Brändle, 41, Helmut Ulmer, 24, und Roland Pieler, 20.

Um 17.28 Uhr fährt der Konvoi von der Friedrich-Schmidt-Straße in die Vincenz-Statz-Straße ein - noch zweimal rechts abbiegen und eine weitere Fahrt wäre ohne Zwischenfälle überstanden gewesen. Doch dann muss Marcisz scharf abbremsen, ein anderer Pkw versperrt plötzlich den Weg. Der Mercedes der Polizisten lässt sich nicht mehr rechtzeitig stoppen, er fährt auf Schleyers Wagen auf.

Die Entführung Schleyers

Kurz darauf peitschen Schüsse durch das Viertel, Glasscheiben splittern. Etwa zwei Minuten später rast ein weißer VW-Bus aus der Vincenz-Statz-Straße heraus und verschwindet Richtung Westen. Einige Anwohner glauben zunächst an Filmaufnahmen, doch wenige Augenblicke später erkennen die ersten die grausame Realität. Um 17.33 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein: "Hier schießen mehrere Leute mit Maschinenpistolen. Mehrere Tote und Verletzte."

Die kurz darauf eintreffenden Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte stellen fest, dass die drei Personenschützer und Schleyers Fahrer tot sind - Schleyer selbst ist verschwunden. Schnell macht die erschütternde Neuigkeit vom Attentat auf den Arbeitgeberpräsidenten und dessen Entführung die Runde.

Details des Überfalls geben die Verantwortlichen an diesem Tag nicht bekannt, jedoch führt die Fahndung nach dem weißen VW-Bus schnell zum Erfolg. Ein Anwohner des Wiener Wegs 1b in Köln-Junkersdorf meldet sich gegen 19.45 Uhr bei der Polizei: Der gesuchte Wagen stehe in der Tiefgarage der Anlage. Darin finden die Beamten ein erstes Bekennerschreiben: "an die bundesregierung sie werden dafür sorgen, dass alle öffentlichen fahndungsmassnahmen unterbleiben - oder wir erschiessen schleyer sofort ohne dass es zu verhandlungen über seine freilassung kommt. raf"

Am Abend gibt Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) im Fernsehen eine erste Stellungnahme zu der "blutigen Provokation in Köln" ab: "Uns alle erfüllt nicht bloß tiefe Betroffenheit angesichts der Toten, uns erfüllt alle auch tiefer Zorn über die Brutalität, mit der die Terroristen in ihrem verbrecherischen Wahn vorgehen. Sie wollen den demokratischen Staat und das Vertrauen der Bürger in unseren Staat aushöhlen. (...) Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten."

Das Innenministerium Baden-Württemberg teilt mit, dass in Stammheim zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen angeordnet worden seien. Dort sitzen die zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin; sie werden in andere Zellen verlegt.

In Bonn, damals noch Regierungssitz, prophezeit ein Mitglied des SPD-Fraktionsvorstands einem SZ-Reporter, "dass der Bundesrepublik böse Zeiten bevorstehen".

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