Der Deutsche Herbst 1977 (III und Schluss):Gefangen im Unglück

Stammheim, der Tod und die Folgen: Um den Hochsicherheitstrakt ranken sich die Mythen zum Untergang der RAF - zugleich ist er ein Symbol für Macht und Ohnmacht des Staates.

Stefan Klein

Lebensläufe: Manchmal führen sie geradewegs ins Unglück, aber die, die es betrifft, merken es nicht. Wie hätte es Dr. Theo Prinzing auch merken sollen? Die Stelle des Vorsitzenden Richters des 2. Strafsenats beim Oberlandesgericht Stuttgart war frei, Prinzing hatte Gönner, er hatte Förderer, und es war ja auch ein Karrieresprung. Oder Hans Nusser. Der war Staatsanwalt, aber dann wurde ihm in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim die Stelle des Direktors angeboten.

Der Deutsche Herbst 1977 (III und Schluss): Symbol für Macht und Ohnmacht gleichermaßen: Der Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stammheim (Archivfoto aus dem Jahr 2002).

Symbol für Macht und Ohnmacht gleichermaßen: Der Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stammheim (Archivfoto aus dem Jahr 2002).

(Foto: Foto: AP)

Gewiss, da war dieser siebte Stock, und da waren diese äußerst schwierigen Gefangenen, und natürlich hat er sich die Sache gut überlegt, aber vor einer Herausforderung kneifen? Nicht er. Oder Horst Bubeck. Stammheim war ein sicherer Arbeitsplatz, das Gefängnis war damals, Anfang der sechziger Jahre, noch neu und modern, als Vollzugsbeamter hatte man Pensionsanspruch - wieso hätte er dort nicht arbeiten sollen?

So sind sie, die Lebensläufe, bieten Karrieren, Herausforderungen und Pensionsansprüche an, und manchmal, da spiegeln sie sogar noch viel Größeres vor, die Weltrevolution, die Vereinigung der Proletarier aller Länder, und wie so etwas endet, kann man auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof besichtigen. Die drei erwähnten Herren dagegen kann man sprechen, und man kann sie befragen zu dem, was ihnen widerfahren ist. Nusser nennt es eine Katastrophe, eine Niederlage, und das ist es ja auch.

Chef eines Gefängnisses zu sein, in das Waffen geschmuggelt und zum Selbstmord von Gefangenen benutzt werden, viel ärger kann es nicht kommen. Bubecks Unglück kam anders daher, nicht Knall auf Fall, sondern schleichend und seine Ehre zersetzend. Eine braver Mann, der plötzlich dastand wie ein Folterknecht - Bubeck arbeitet noch als Ruheständler daran, dies aus der Welt zu schaffen. Und Theo Prinzing?

Das Gift im Saal

Es ertönt die Stimme von Andreas Baader, sie ruft: "Ich hatte nicht einmal die Stellungnahme gehabt, du Schwein." Darauf Prinzing: "Wenn Sie nochmals stören, führt es zu Ihrem Ausschluss!" Wieder Baader: "...dass ich das Recht hab', bei der wirklich brachialen Manipulation, die Sie hier versuchen, dass ich das Recht hab', mich dagegen zu wehren." Gudrun Ensslin mischt sich ein: "Ja, du bist doch ein Idiot." Prinzing: "Darf ich bitten, den Angeklagten Baader abzuführen." Erneut Ensslin: "... die Reihen zu lichten, du Schwein, Killer". Prinzing: "Frau Ensslin wird nach Senatsbeschluss vom weiteren Ablauf des heutigen Tages ausgeschlossen."

Nun meldet sich Ulrike Meinhof: "Wir werden das nicht vergessen, was Sie hier abziehen." Prinzing: "Frau Meinhof ist vom weiteren Ablauf des heutigen Tages ausgeschlossen." Meinhof: "Du imperialistisches Staatsschwein!" Prinzing: "Bitte Frau Meinhof abzuführen."

32 Jahre ist das her, es war der 40.Verhandlungstag, und dass man die Stimmen heute noch hören kann, ist Zufall. Man hat damals die Verhandlung auf Tonband aufgenommen, alle Bänder wurden nach Abschrift gelöscht, nur ein paar nicht. Die blieben erhalten, unlängst wurden sie entdeckt, und so kommt es, dass man 13Stunden dieses Prozesses noch im Originalton erleben kann.

Was man hört, sind Szenen eines Kleinkriegs, eines unschönen Spektakels mit angriffslustigen Verteidigern, mit rüpelhaften Angeklagten und einem Vorsitzenden, der einfach nicht den Ton findet, den gelassenen Ton, den es bräuchte, um die Schärfe und das Gift im Saal zu neutralisieren. Heute ist Prinzing 82, er ist gelassener geworden, und er sagt lächelnd auf die Frage, warum er damals nicht souveräner gewesen sei: "Alte Fußballregel, man kann nicht besser spielen, als es der Gegner zulässt."

Prinzing war bis dahin kein schlechter Richter gewesen. Nie war ein Befangenheitsantrag gegen ihn gestellt, nie eines seiner Urteile in der Revision kassiert worden. Als höflich, aber bestimmt beschreibt er seine Linie, als liberal seine Verhandlungsführung, doch nun im Verfahren gegen die Terroristen der RAF galt er plötzlich als rabiat, borniert, kleinlich. Warum würgte er zum Beispiel am Anfang des Prozesses jeden Versuch der Angeklagten ab, ihre politischen Vorstellungen darzulegen? Ganz einfach, sagt Prinzing, die Anklage war noch nicht verlesen, die Angeklagten waren noch nicht belehrt worden.

Wenn er ihnen nachgegeben hätte, wäre das ein Revisionsgrund gewesen. Penibel war er, genau - und das Presseecho verheerend. Sogar mit dem NS-Richter Roland Freisler wurde Prinzing verglichen. Er sagt, so viele Kränkungen wie während dieses Prozesses habe er in seinem ganzen übrigen Berufsleben nicht schlucken müssen.

Gefangen im Unglück

Stammheim ist ein Stadtteil am nördlichsten Rand von Stuttgart. Was immer Stammheim an Vorzügen haben mag, sie werden überlagert von den Bildern und Szenen, die man mit jenem Gebäude verbindet, das aus der Ferne wirkt wie ein Hotel. Da hat man dann freilich nur den achtstöckigen Bau wahrgenommen und das Drumherum übersehen - den von Stacheldraht gekrönten Zaun, die Leuchten, die drei Mann hohe Betonmauer.

Der Deutsche Herbst 1977 (III und Schluss): Die Strafanstalt Stammheim am 22. Mai  1975. Am Tag zuvor hatte in einem eigens für diesen Zweck erbauten Gerichtsgebaeude der Prozess gegen die RAF-Häftlinge begonnen.

Die Strafanstalt Stammheim am 22. Mai 1975. Am Tag zuvor hatte in einem eigens für diesen Zweck erbauten Gerichtsgebaeude der Prozess gegen die RAF-Häftlinge begonnen.

(Foto: Foto: AP)

Es ist ein Gefängnis für acht-, neunhundert Häftlinge, und direkt daneben steht das eigens für den ersten großen RAF-Prozess errichtete Gerichtsgebäude. In dem fensterlosen Betonbau, einer Turnhalle nicht unähnlich, hatte Prinzing seinen Arbeitsplatz, so lange, bis am 174.Verhandlungstag der 85.Befangenheitsantrag gegen ihn schließlich zu seiner Ablösung führte. Nusser und Bubeck taten ihre Arbeit im Knast nebenan - der eine als Direktor, der andere als stellvertretender Vollzugsdienstleiter.

Bubeck war zuständig für die vier RAF-Gefangenen im siebten Stock: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Es waren Häftlinge, wie Bubeck sie noch nie erlebt hatte. "Guten Morgen, Frau Meinhof", sagte er bei der Ankunft der Gefangenen in Stammheim. Ihre Antwort war ein Tritt in Bubecks Unterleib. Später waren es dann Drohungen und verbale Attacken - Arschloch, Wichser, Schwein, Drecksau. Irgendwann, sagt Bubeck, habe man das alles nicht mehr gehört, und dennoch: Jedes Mal, wenn er vom siebten Stock wieder herunterkam in sein Büro im Erdgeschoss, musste er zur Beruhigung erst mal eine rauchen. Es waren 60Zigaretten am Tag, viele Tassen Kaffee kamen dazu und später auch noch die Tabletten gegen den Bluthochdruck.

Die Bösartigkeiten waren indes nur ein Problem von vielen. Das größte rührte an Bubecks Berufsauffassung und an sein Gefühl für Gerechtigkeit. Es bestand in den unerhörten Vergünstigungen, die der Senat des Dr. Prinzing den vier Häftlingen gewährte.

Wovon Gefangene in Deutschland damals nur träumen konnten, gemeinsamer Umschluss von Männern und Frauen, tägliches Duschen, großzügige Besuchsregelungen, der Besitz von Fernsehern, der Besitz von Hunderten von Büchern, von Plattenspielern, von Zeitungen und Zeitschriften - all das war Alltag im siebten Stock von Stuttgart-Stammheim. Das eiserne Prinzip, dass Angeklagte in derselben Sache voneinander getrennt zu halten sind, hier galt es nicht.

Im Gegenteil: Zum Zwecke der gemeinsamen Prozessvorbereitung durften die Angeklagten auf dem Gang zwischen ihren Zellen zusammenkommen, zwei Frauen, zwei Männer, auch das ein Tabubruch. Da saßen sie dann auf Kissen und Decken - mit einer Aufsichtsperson im Abstand von 7,50 Meter. Als die meldete, die Häftlinge würden über alles mögliche reden, nur nicht über den Prozess, da ließ das Gericht den Abstand verdoppeln - auf 15 Meter.

Das waren so Sachen, die Bubeck manchmal schon gar nicht mehr fassen konnte, Nusser sagt: "Da ging einem das Messer im Sack auf." Vermutlich tat es das öfter, zum Beispiel auch in der Frage der Fernseher. Als die gewährt worden waren, verlangte Baader Strom über die übliche Grenze von 22Uhr hinaus. Das wurde verweigert. Kurz danach forderten die Häftlinge Heizdecken, aus medizinischen Gründen. Die wurden vom Anstaltsarzt genehmigt.

Noch am selben Tag schickte man jemanden los ins Kaufhaus, und es wurde von dort telefonisch sogar noch mal nachgefragt bei den Häftlingen, ob die Decken geblümt oder einfarbig sein sollten. Dass es darauf nicht ankam, stellte sich bald heraus. Denn kaum waren die Gefangenen im Besitz der Heizdecken, musste natürlich die Stromzufuhr gewährleistet werden, und damit hatten die Vier, was sie wollten: Fernsehen ohne zeitliche Begrenzung.

Zuckerbrot im siebten Stock

Bubeck sagt: "Wenn Baader was wollte, hat er es auch bekommen." Einmal wollte er, befürwortet vom Arzt, die Mauer zwischen zwei Zellen durchbrochen haben, da wurde sie durchbrochen. Nach 14 Tagen wollte er es nicht mehr, da wurde sie wieder hochgezogen.

Wie man das begreifen soll? Nach der Festnahme des harten Kerns der RAF im Sommer 1972 machten Anwälte und Sympathisanten mobil. Ihr zum Teil berechtigter Vorwurf: Die damals noch auf verschiedene Anstalten verteilten Häftlinge seien unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt.

Die Gefangenen selber wehrten sich mit Hungerstreiks, einer von ihnen, Holger Meins, starb dabei. Die Stuttgarter Richter scheinen daraus den Schluss gezogen zu haben, dass die Häftlinge möglichst großzügig zu behandeln seien, um ihre Verhandlungsfähigkeit zu sichern und den Prozess nicht zu gefährden.

Von einem Extrem ins andere: Eben noch allein und von allen Geräuschen isoliert irgendwo im toten Trakt eines deutschen Gefängnisses, und nun in Stammheim sollte auf einmal Zuckerbrot gereicht werden. Prinzings Kollege Kurt Breucker sagt: "Wir hatten das Ziel, die Angeklagten zu befrieden, um sie ein bisschen zugänglicher zu machen." Die Rechnung ging freilich nicht auf: Obwohl der Strafsenat so ziemlich alles genehmigte, was medizinische Sachverständige zur Erleichterung der Haftbedingungen vorschlugen, betrieben die Angeklagten unverändert weiter Obstruktion.

Für Bubeck und seine Kollegen war das eine absurde Situation. Sie hatten ausgesprochen privilegierte Häftlinge in ihrer Obhut, doch in dem Gerichtssaal nebenan, in den Antifolterkomitees landauf, landab und auch in einem Teil der Presse war weiterhin von Isolationsfolter und Vernichtungshaft die Rede. Von den Anwälten, sagt Breucker, sei es vor allem Otto Schily, der spätere Bundesinnenminister, gewesen, der in diesem Sinne agitiert und "die Propagandalüge" verbreitet habe.

Er konnte das umso ungenierter tun, als staatlicherseits keine Anstrengungen unternommen wurden, um den Behauptungen entgegenzutreten - und Horst Bubeck, der Mann, der die Wahrheit besser kannte als jeder andere, hatte keine Möglichkeit dazu. Er musste mit dem bösen Anschein leben, im Dienste von Folter und Vernichtung tätig zu sein.

Gefangen im Unglück

Der Deutsche Herbst 1977 (III und Schluss): Erschossen? Im angeblich sichersten Gefängnis Europas? RAF-Anwalt Otto Schily (rechts) nach dem Tod der Terroristen bei einer Pressekonferenz, auf der Zweifel an der Selbstmordversion geäußert wurden.

Erschossen? Im angeblich sichersten Gefängnis Europas? RAF-Anwalt Otto Schily (rechts) nach dem Tod der Terroristen bei einer Pressekonferenz, auf der Zweifel an der Selbstmordversion geäußert wurden.

(Foto: Foto: dpa)

Dabei hatte er in Wahrheit alle Hände voll zu tun, um vor den anderen Gefangenen in Stammheim zu verschleiern, wie viel besser das Leben im siebten Stock war. Einmal drohte eine Häftlingsrevolte, und der Grund war, dass man sich schlechter behandelt fühlte als "die da oben". Richter Prinzing wurde sogar angezeigt von normalen Stammheimer Häftlingen - wegen Begünstigung der Baader-Meinhof-Gruppe.

Tatsächlich waren die Verhältnisse im siebten Stock so, dass dort, wie Nusser es formuliert, "der Braintrust eines Verbrechersyndikats voll weiterarbeiten konnte, effizienter und besser als in Freiheit". Mitentscheidend dafür seien jene Anwälte gewesen, die als Komplizen für die Kommunikation zwischen drinnen und draußen gesorgt hätten. Nusser nennt sie "anwaltliche Sendboten".

Hans-Christian Ströbele, Bundestagsabgeordneter der Grünen, war zwischen 1972 und 1975 Wahlverteidiger von Andreas Baader. Im Mai 1975 wurde er vom Stuttgarter Prozess ausgeschlossen und kurz darauf sogar vorübergehend verhaftet. Jahre später verurteilte das Berliner Landgericht Ströbele wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Begründung: Er habe mitgewirkt an einem Informationssystem zugunsten der RAF-Gefangenen. Ströbele bestreitet dies nicht.

Er sagt, das sei ein "außergewöhnliches Engagement" gewesen für Gefangene, "die in einer ganz verzweifelten physischen und psychischen Situation waren", wobei in Stammheim die Situation allerdings "in vielem" besser gewesen sei. Man habe als Anwälte die Gefangenen mit Diskussionspapieren versorgt, mit Zeitungs- und Buchmaterial, und ihnen geholfen, eine gemeinsame Verteidigung zu organisieren.

Ströbele sagt, er habe dies "selbstverständlich für legal" gehalten, er habe keine Kassiber und auch sonst nichts geschmuggelt, er habe gelegentlich sogar Schriftstücke aus dem Info-Kreislauf ausgesiebt, die er für nicht geeignet hielt - "Auszüge aus irgendwelchen Kriminalzeitschriften über Waffentechnik und solche Sachen". Mag sein, dass es in seinem Fall tatsächlich so war, von anderen Anwaltskollegen hingegen weiß man, dass sie in ihrem Engagement sehr viel weiter gegangen sind.

Die Qual des Wärters

In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 wurde in Somalias Hauptstadt Mogadischu die entführte Lufthansa-Maschine Landshut mit 90Menschen an Bord von der GSG 9, der Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes, aus der Gewalt arabischer Terroristen befreit. Mit der Entführung des Flugzeugs sowie der zuvor erfolgten Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer sollte der harte Kern der RAF freigepresst werden. Ulrike Meinhof gehörte nicht mehr dazu. Sie hatte im Jahr davor Selbstmord begangen.

An ihrer Stelle war jetzt Irmgard Möller im siebten Stock. Vom Scheitern der Aktion in Mogadischu erfuhren die vier Häftlinge in Stammheim trotz der mit dem Beginn der Entführungskrise angeordneten strengen Isolation noch in derselben Nacht, vermutlich mithilfe eines Radios, das später in der Zelle Raspes gefunden wurde.

Gefangen im Unglück

Der Deutsche Herbst 1977 (III und Schluss): Hört im Tod die Feindschaft auf? Die Beerdigung von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin (links ihr Vater) geriet auch zum Aufmarsch der Sympathisantenszene.

Hört im Tod die Feindschaft auf? Die Beerdigung von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin (links ihr Vater) geriet auch zum Aufmarsch der Sympathisantenszene.

(Foto: Foto: dpa)

Was danach passierte, weiß man nicht. Einiges spricht dafür, dass sich die Gefangenen über eine Wochen zuvor heimlich gebastelte Kommunikationsanlage zum Selbstmord verabredet haben. Mit Gewissheit wird man dies aber erst sagen können, wenn die Frage positiv beantwortet ist, die derzeit Gegenstand von vielen Spekulationen ist: Wurde in der Todesnacht von Stammheim abgehört? Hätte man von dem Plan zur Selbsttötung wissen und somit verhindern können, was am nächsten Morgen traurige Gewissheit war? Da fand man die Vier. Gudrun Ensslin hatte sich erhängt und war tot. Irmgard Möller hatte Stichverletzungen und überlebte. Die beiden Männer, Baader und Raspe, hatten sich erschossen.

Erschossen? Im angeblich sichersten Gefängnis Europas? Nusser war "wie vor den Kopf geschlagen", er dachte, das wird dich dein Leben lang nicht mehr loslassen. Bubeck quälte sich mit Schuldgefühlen, er fragte sich, was hast du falsch gemacht in deinen Anordnungen. Statt zu schlafen, spielte er nachts alle Möglichkeiten durch, immer wieder. Dass er keine Schuld hatte, stellte sich drei Monate später heraus. Da erklärte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, die Schusswaffen seien mit Hilfe von Anwälten in die Anstalt gekommen.

Man hatte Hohlräume in Akten hineingeschnitten und darin die Pistolen, in Einzelteile zerlegt, ins Gerichtsgebäude mitgebracht. So kamen sie in die Hände der Angeklagten, die, und das war die undichte Stelle, auf dem Rückweg in die Anstalt nicht mehr kontrolliert wurden. Rechtsanwalt Arndt Müller, dessen Mandantin Gudrun Ensslin war, musste für den Waffenschmuggel mit einer mehrjährigen Haftstrafe büßen.

Ein Grab, kein Kult

Wieder so ein Lebenslauf, der ins Unglück führte. Es waren keine guten Zeiten in Deutschland, aber es kamen auch wieder andere. Hans Nusser ist am Tag nach den Selbstmorden zurückgetreten und wieder Staatsanwalt geworden. Auf den Prozess hatten die Selbstmorde keinen Einfluss, er war ein paar Monate vorher mit dem erwarteten Lebenslang zu Ende gegangen. Theo Prinzing war da nicht mehr dabei. Er blieb noch viele Jahre Richter, und als dann Schluss war, da hat er, der Hobby-Archäologe, sich aufs Graben verlegt.

Heute gräbt er nur noch in den beiden Gärten, die er betreut, und einmal in der Woche spielt er Skat. Einer seiner Skatbrüder ist Hans Nusser. Horst Bubeck blieb noch bis 1991 auf Posten in Stammheim. Er wurde vom stellvertretenden Vollzugsdienstleiter zum Vollzugsdienstleiter befördert und hatte es noch mit einer Reihe anderer RAF-Häftlinge zu tun, von denen er sagt, sie seien höflich gewesen und angenehm im Umgang. Kein Vergleich mit denen, die so gewaltsam starben wie sie gelebt hatten.

Nach deren Tod stellte sich die Frage: Wohin mit den Leichen? Volkes Stimme sagte: Ab in die Müllkippe. Da war er nun also wieder mal gefordert, der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU), und es war nicht das erste Problem, das ihm die RAF beschert hatte. Wenige Monate zuvor hatte Stuttgarts Schauspieldirektor Claus Peymann einen von Ensslins Mutter Ilse initiierten Spendenaufruf für überfällige Zahnreparaturen bei den RAF-Häftlingen am Schwarzen Brett im Bühnenhaus des Staatstheaters aufgehängt.

Gefangen im Unglück

Als die Hilfsaktion bekannt wurde, brach in der Stadt ein Wutschrei los, und der steigerte sich noch, als just in diesen aufgeregten Tagen Hanns Martin Schleyer von eben jener RAF entführt wurde. Peymann stand auf der Kippe, aber Rommel sprang ihm bei: "Bleibet Se do, un saget Se nix." Geschwiegen hat Peymann nicht, das kann er nicht, aber er blieb und überstand den Sturm.

Im Oktober dann also ein neues Unwetter, ähnlich heftig, aber der couragierte Rommel wusste auch das zu meistern. Heute ist Rommel ein von Krankheit gezeichneter 78 Jahre alter Herr, aber die Erinnerung hat nicht gelitten. Der Wunsch, die drei Toten zusammen zu beerdigen, sei von Vater Helmut Ensslin gekommen, sagt Rommel, und er weiß auch noch, dass er seine Zusage schnell und im Alleingang gegeben hat.

Denn ein Hickhack im Stadtrat wollte er unbedingt vermeiden. Kritiker gab es danach viele, und ein Problem mit seiner Entscheidung hatte auch die Familie des inzwischen ermordeten Hanns Martin Schleyer. Rommel suchte sie auf, legte seine Gründe dar, und vielleicht hat er auch da den schlichten Satz gesprochen, mit dem er sich zuvor schon gerechtfertig hatte: "Für mich hört im Tod die Feindschaft auf."

Das Grab im Stuttgarter Dornhaldenfriedhof besteht aus einer schlichten Steinplatte mit den drei Namen und dem Todesdatum 18. Oktober 1977. Zur Beerdigung damals war die Sympathisantenszene aufmarschiert und auch die Polizei. Die einen trugen Waffen, die anderen Transparente. Auf einem stand: "Gudrun, Andreas und Jan wurden in Stammheim gefoltert und ermordet." Eine Kultstätte, wie befürchtet, ist das Grab nicht geworden.

Aber die Leute sagen, im Winter bei Schnee sehe man, dass die meisten Fußspuren zu Baader, Ensslin und Raspe führen. Arrogantes Arschloch, hat jetzt, nach dreißig Jahren, einer aus der damaligen Sympathisantenszene dem Baader hinterhergerufen. Prinzing sieht es anders. Er hatte jenseits von den Rüpeleien fast ein bisschen Freude an Baader, an seiner Intelligenz, seiner Stärke. Er sagt: "Schade um den Kerle, aus dem hätte man was machen können."

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