Geißler und Stuttgart 21:"Die Zeit der Basta-Entscheidungen ist vorbei"

Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler gibt offenbar seine neutrale Vermittlerrolle auf - und wettert gegen die Entscheidungspraxis. Indes kapern Projektgegner vorübergehend den Südflügel des Bahnhofs.

Eigentlich sollte Heiner Geißler als Schlichter in der Streitfrage Stuttgart 21 Sachlichkeit in die hoch emotional geführte Debatte um den Neubau des Hauptbahnhofs bringen. Doch von allzu viel Zurückhaltung hält das Polit-Urgestein offenbar nichts: Nun hat der 80-Jährige die Entscheidungsprozesse beim umstrittenen Milliarden-Bauvorhaben scharf kritisiert.

Stuttgart 21 - Gegner besetzen Südflügel

Am Samstagabend wurde der Südflügel des Hauptbahnhofs besetzt. Nach einer guten Stunde hätten die etwas 35 Besetzter weitgehend freiwillig aufgegeben, sagte ein Polizeisprecher.

(Foto: dpa)

"Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehören dem vorherigen Jahrhundert an", sagte Geißler der Bild am Sonntag. "Die Schlichtung ist ein deutliches Signal dafür, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei ist", kommentierte der CDU-Politiker.

Indes haben am Samstag ungeachtet der angelaufenen Schlichtung wiederum Tausende Gegner des Bahnprojekts in der Landeshauptstadt demonstriert. Bei regnerischem Herbstwetter erschienen aber deutlich weniger Menschen als von den Veranstaltern erwartet. Später besetzten Demonstranten vorübergehend den Südflügel des Hauptbahnhofs.

Währenddessen starteten die Befürworter eine Überzeugungsoffensive, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Wir haben alle Gründe, uns für Stuttgart 21 einzusetzen", sagte sie vor der Jungen Union in Potsdam. Die Stuttgart-21-Gegner hatten auf 100.000 Teilnehmer gehofft, im Regen auf dem Schlossplatz standen nach ihren Angaben aber gerade einmal 25.000. Die Polizei zählte sogar nur 18.000 Menschen.

Gangolf Stocker von der Initiative "Leben in Stuttgart - kein Stuttgart 21" verteidigte seine Teilnahme an der Schlichtung, obwohl kein vollständiger Baustopp verhängt worden ist. Die öffentliche Übertragung im Internet gebe die Möglichkeit, den Widerstand "in jedes Dorf in Deutschland zu tragen".

"Lasst uns schreien"

Höhepunkt der Demonstration war der Auftritt des Liedermachers Konstantin Wecker. Er rief zu einer Zukunft des Miteinanders auf. "Lasst uns aufstehen, lasst uns schreien, gegen all die Mauscheleien", sang er bei seinem Auftritt.

Für Merkel ist die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde, der nach Bahnangaben rund 4,1 Milliarden Euro kosten wird, ein wichtiger Baustein im europäischen Verkehrsnetz. Allerdings müssten die Bürger bei solchen Großprojekten mitgenommen werden. Die Befürworter sollten ihre Argumente deutlicher herausstellen. "Mit dieser Begeisterung muss man auch zu den Menschen gehen und muss sie überzeugen."

Ihr Kabinettskollege, Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), fand dagegen deutlichere Worte. Die Schlichtungsgespräche seien zwecklos, es gehe nur um ein Ja oder ein Nein, sagte er der Welt am Sonntag. Alles spreche eindeutig für die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde. "Wenn man nun dem Druck der Straße folgt, ist die repräsentative Demokratie am Ende." Davor warnte auch der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn. Diesen Gruppen, "die sich selbst das Mandat verleihen", dürfe nicht das Feld überlassen werden", sagte er dem Magazin Focus.

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin griff den heutigen Bahnchef Rüdiger Grube scharf an. Er warf ihm in der Bild am Sonntag vor, die Schlichtungsbemühungen von Heiner Geißler zu torpedieren. "Offensichtlich glaubt Herr Grube, eine Schlichtung sei ein bisschen Beruhigungs-Heiteitei für die Gegner. Er eskaliert, provoziert, polarisiert."

Die Bahn wies das zurück und konterte in einer Mitteilung: "Öffentlichen Auseinandersetzung über die Medien sind nicht hilfreich und kontraproduktiv." Grube setze "weiterhin auf Dialog und Argumente in der Sache".

Härtere Gangart angepeilt

Der Bahnhofstreit prägte auch den Landesparteitag der baden-württembergischen SPD. Der Landesvorsitzende Nils Schmid kündigte an, er werde einen Volksentscheid durchsetzen, sollte er im nächsten Frühjahr zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Seine Partei drängte ihn in der Auseinandersetzung zu einer härteren Gangart.

Sie votierte für die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum umstrittenen harten Polizeieinsatz in Stuttgart. Schmid wollte darauf verzichten. Allerdings forderte er den Rücktritt von Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) wegen des Einsatzes.

SPD-Chef Sigmar Gabriel votierte für den Umbau des oberirdischen Kopfbahnhofes in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof und die Anbindung an die geplante ICE-Schnelltrasse nach Ulm. "Aus unserer Sicht spricht viel für Stuttgart 21", sagte er dem Weser-Kurier aus Bremen. "Wir können es uns nicht leisten, nach Verkehrsverlagerung auf die Schiene zu rufen und dann gegen jede Bahnstrecke zu sein."

Am Samstagabend räumte die Polizei den besetzten Südflügel des Hauptbahnhofs. Etwa 35 Besetzer hätten nach einer guten Stunde weitgehend freiwillig aufgegeben, sagte ein Polizeisprecher. Die Besetzer hatten eine Türe aufgehebelt und hinter sich verrammelt. Etwa 1500 Demonstranten feierten vor dem Gebäude den Coup. Die Polizei geht von einem geplanten Manöver aus. Die Aktion sei live im Internet übertragen worden.

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