Demokratische Kultur:Die Mär vom Staatsversagen

Der Reichstag spiegelt sich in einer Pfütze

Ein Staat macht Fehler, das macht ihn noch nicht unregierbar.

(Foto: dpa)

Es ist nahezu grotesk, wie Rechte, Linke und sich selbst für bürgerlich haltende Schlaumeier das Gemeinwesen schlechtreden. Die Demokratie muss aus der Defensive kommen.

Kommentar von Joachim Käppner

Steven Pinker ist ein hartnäckiger Optimist. Der amerikanische Philosoph lässt sich in seinem Glauben an die Kraft der Aufklärung, der Vernunft, des Fortschritts nicht irre machen, mag auch im Weißen Haus ein politischer Horrorclown wüten und die westliche Welt vom Furor des rechten Populismus herausgefordert werden. In seinem neuen Buch "Aufklärung jetzt" schreibt Pinker: "Eine perfekte Welt werden wir niemals haben. Aber es gibt keine Grenzen dafür, diese Welt zu verbessern."

Deutschland wird in dieser Woche eine neue Regierung bekommen, nach ungewohnten Monaten der Mühsal. Ja, etliche Beteiligte haben nicht gerade Werbung für die demokratische Willensbildung gemacht. Die Liberalen, die den Leuten immer Eigenverantwortung predigen, sind selber aufs Hasenfüßigste davor geflohen. Die SPD verschärfte ihre Krise unter Martin Schulz, der am Ende die Glaubwürdigkeit eines Meineidbauers besaß. Eine positive Vision - etwa die Rettung des Projekts Europa - verschwand hinter Interviewschlachten um Spiegelstriche des Koalitionsvertrages von Union und SPD.

Staatsversagen ist ein Modebegriff

Aber deshalb ist Deutschland noch lange nicht "unregierbar", wie das konservative Magazin Cicero titelte. Es sind nur die Mühen der demokratischen Ebene. Es gibt eine neue Parteienkonstellation im Parlament, und entsprechend schwierig war die Mehrheitsfindung. So what?

Eine Chiffre, die der radikalen Kritik an "denen da oben" einen düsteren Glanz verleihen soll, heißt "Staatsversagen". Dieser Modebegriff stammt eigentlich aus der rhetorischen Waffenkammer von Befürwortern radikaler Marktfreiheit. Als politischer Vorwurf nistete er sich zunächst am lunatic fringe ein, dem irren Rand der Netzwelt. Inzwischen aber geht er vielen Bürgern wie selbstverständlich über die Lippen, von der AfD über selbstverliebte Intellektuelle bis hin zur Linken.

Auch ein mehr oder weniger gut geführter Staat macht Fehler

Jeder meint etwas anderes damit, aber alle gemeinsam meinen: Dieser Staat gibt sich auf, wenn er nicht genau das unternimmt, was meinen Interessen entspricht. Selbst Horst Seehofer als neuer Minister redet das eigene Staatswesen schlecht, wenn er künftig für "einen starken Staat sorgen" will, so als sei dieser jetzt hilflos und schwach und eines Retters aus Bayern bedürftig.

Natürlich macht auch ein mehr oder weniger gut geführter Staat Fehler, bisweilen katastrophale, wie im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters Amri. Es gibt soziale Not, Umweltprobleme, verkommende Stadtviertel, Defizite der Integration. Aber entscheidend ist, ob man den Staat an seinen in der deutschen Demokratie ganz erheblichen Fähigkeiten misst, diese Probleme zu lösen und aus Fehlern zu lernen. Oder ob man es schon als Beweis des Versagens nimmt, dass es diese Probleme und Fehler überhaupt gibt.

Bei Italienern, Amerikanern, Briten, Ungarn, die unter den Irrwegen ihrer Staatsführungen leiden (ganz zu schweigen von Menschen aus von Krieg und Krisen verheerten Staaten), rufen derartige deutsche Befindlichkeitsstörungen oft Befremden, ja Belustigung hervor. Staatsversagen? Ernsthaft? In einem der reichsten, stabilsten und freiesten Länder, wo fast Vollbeschäftigung herrscht, die Verwaltung selten korrupt ist und niemand, der noch die schrecklichsten Anwürfe gegen die Regierung herausschreit, fürchten muss, dass im Morgengrauen Geheimpolizisten seine Tür eintreten?

Die Demokratie muss aus der Defensive kommen

Das Wort vom Staatsversagen ist ein gar nicht so fernes Echo jener Epochen von Bismarck bis Honecker, als der Glaube an den Obrigkeitsstaat Züge religiöser Verehrung trug. Es spricht daraus manch altes Untertanentum, das vom Staat das Heil erwartete (und der dafür kritiklose Zustimmung verlangte und bekam). Geblieben davon ist eine überbordende Anspruchshaltung an die Regierung, an die Träger von Verantwortung allgemein. Wer jedoch so denkt, begreift das demokratische Gemeinwesen nicht als freiheitliches Projekt, an dem er teilhat und das ihm tausend Chancen bieten würde, sondern als Fürsorgeanstalt.

Diesem überheblichen Ungeist, der viele Errungenschaften der Freiheit geringschätzt, kann die Demokratie nur begegnen, wenn sie aus der Defensive herauskommt, in der sie seit der Bundestagswahl so seltsam gefangen erscheint. Steven Pinker möchte die "positive Vision" wieder stärken, eine, "die Probleme der Welt vor dem Hintergrund des Fortschritts sieht, den sie erreichen kann, indem sie diese Probleme löst". Es ist Zeit für mehr Zutrauen in die Kraft der deutschen Demokratie und ihrer Institutionen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: