Demographie:Müntefering warnt vor Krieg der Generationen

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering warnt eindringlich davor, die Folgen der Überalterung der deutschen Gesellschaft zu ignorieren.

Susanne Höll

Ein halbes Jahr nach seinem Rückzug als SPD-Bundesvorsitzender meldet sich Franz Müntefering mit der eindringlichen Mahnung zu Wort, sich stärker als bislang mit den Konsequenzen der alternden Gesellschaft auseinanderzusetzen. "Bislang sagt niemand in aller Deutlichkeit, wie schwerwiegend und folgenreich dieser Wandel sein wird. Die Zahlen liegen zwar vor, aber die Zusammenhänge werden nicht ausreichend beschrieben", sagte Müntefering der Süddeutschen Zeitung.

SPD-Vorsitzender Müntefering in Augsburg

Ein halbes Jahr nach seinem Rückzug als SPD-Bundesvorsitzender meldet sich Franz Müntefering mit der eindringlichen Mahnung zur alternden Gesellschaft zu Wort.

(Foto: ag.dpa)

Die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, weil mehr Menschen sterben als geboren werden. Gleichzeitig leben die Menschen immer länger. Schon heute ist jeder fünfte 65 Jahre oder älter. In fünfzig Jahren wird es jeder dritte sein. Müntefering warnte davor, die Folgen dieser Entwicklung zu ignorieren und Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. "Letztendlich ist es wie bei der Debatte um die Zügelung der Finanzmärkte. Wir alle wissen, dass wir dringend etwas tun müssen", sagte er, aber alle drücken sich.

Der 70-Jährige, der sich seit geraumer Zeit mit Fragen des demographischen Wandels und den Konsequenzen für den Zusammenhalt der Gesellschaft beschäftigt und inzwischen Vorsitzender einer neuen Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Thema ist, forderte die Politiker in Bund, Ländern und den Gemeinden auf, das Thema gemeinsam anzupacken. "Wir müssen uns ein Gesamtbild machen, die Politik zusammen mit jenen gesellschaftlichen Gruppen. Wir brauchen einen konzertierte Aktion", sagte Müntefering.

Bislang würden die zentralen Fragen der alternden Gesellschaft isoliert betrachtet. "Die einen beschäftigen sich mit der Rente, die anderen mit der Pflege, Dritte mit dem Arbeitsmarkt, Vierte mit der Bildung, wieder andere mit Integrationsfragen", fügte er hinzu. Diese politischen Strukturen seien unzureichend und würden den Herausforderungen nicht gerecht.

In einem 33 Seiten starken Arbeitspapier verlangt Müntefering einen "Gesellschaftsentwurf" zu der Frage, wie der Wandel ohne größere soziale Verwerfungen gestaltet werden kann und stellt einige Forderungen auf. An erster Stelle verlangt er mehr Unterstützung für Familien und Kinder, Ganztagsschulen seien unverzichtbar. Er bekräftigt die SPD-Forderung aus dem Bundestagswahlkampf nach einem neuen Bundesministerium für Bildung und Integration. Das sei eine "Schlüsselaufgabe" für Bund und Länder.

Deutschland müsse künftig nicht nur einzelnen Bewerbern, sondern auch ganzen Familien die Zuwanderung gestatten, Nicht-Deutschen ein kommunales Wahlrecht einräumen und auch die Möglichkeit zu doppelter Staatsbürgerschaft. Damit könne man dem in den nächsten Jahren drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Zugleich setzt sich Müntefering für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Menschen ein. Auch Senioren könnten ein soziales Jahr absolvieren. Eine solche soziale Tätigkeiten könnte älteren Menschen auch helfen, der Isolation und Einsamkeit entgehen.

"Der totale Schock ist unwahrscheinlich"

Zu seinen Forderungen zählt auch der alters- und behindertengerechte Ausbau von Wohnungen, damit die Menschen so lange wie möglich in ihrem eigenen Zuhause leben können, ein rascher Umbau der Pflegeversicherung zu einer "kompletten Volksversicherung", flächendeckende Angebote bei Palliativ- und Hospizdiensten sowie eine Reform der Kommunalfinanzen, damit die zumeist hoch verschuldeten Städte und Gemeinden ihre Aufgaben für Ältere, aber auch Kinderbetreuung und Bildung überhaupt noch erfüllen könnten. Von den Politikern in Bund, Ländern und Gemeinden verlangt Müntefering, bei ihren Entscheidungen über die Grenzen einer Legislaturperiode hinaus zu denken.

Demographische Entwicklung in Deutschland

Demographische Entwicklung in Deutschland Demographische Entwicklung in Deutschland

(Foto: online.sdepolitik)

Es müsse in Jahrzehnten, nicht in Jahren gedacht werden. "Der totale Schock, der sofortiges rigoroses Handeln erzwingt, ist unwahrscheinlich. Deshalb ist die Gefahr groß, aus Angst vor der Schwierigkeit der Botschaft in Deckung zu bleiben und die Verkündung der anstrengenden Nachricht anderen zu überlassen", mahnte Müntefering.

Ausdrücklich warnte er davor, unter Verweis auf den gegenwärtigen Sparzwang und die großen Löcher in den öffentlichen Haushalten weiterhin zukunftsträchtigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Der Preis dafür sei hoch. Er habe die Sorge, dass wir all diese Fragen in Zeiten knapper Gelder abermals vertagen, sagte Müntefering. "Wenn wir uns jetzt aber entschließen, wieder nichts zu tun, kann es sehr gefährlich werden. Dann gibt es in ein paar Jahren große gesellschaftliche Konflikte: Stadt gegen Land, Eltern gegen Kinderlose, Jung gegen Alt, junge Leute mit geringen Einkommen gegen alte Menschen mit Wunsch nach einigermaßen ausreichender Rente", fügte er hinzu.

Trotz seiner Warnungen tritt Müntefering aber dem Eindruck entgegen, die alternde Gesellschaft sei nur mit Risiken verbunden. Es könne keine Rede davon sein, dass eine "unabwendbare Katastrophe" bevorstehe. Allerdings sei die Zeit begrenzt: "Die Frist für die Gestaltbarkeit der Dinge läuft bald ab."

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