Democracy Lab:Wie Flüchtlinge unser Land verändern

Asylum seekers wait in front of the Federal Office for Migration and Refugees (BAMF) at Berlin's Spandau district; Democracy Lab Leipzig

Die deutsche Bürokratie kann erschöpfend sein. Ein Asylbewerber wartet vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin-Spandau.

(Foto: REUTERS)
  • Zu den fünf wichtigsten Themen, die die Teilnehmer des SZ-Projekts Democracy Lab ausgewählt haben, gehört der Komplex "Was muss sich in der Flüchtlingspolitik ändern?"
  • Antworten auf diese Frage können Sie am 5. September in der Moritzbastei in Leipzig miteinander und mit uns diskutieren (zur Anmeldung geht es hier).
  • Weitere Informationen zum Democracy Lab und den anderen Diskussionsveranstaltungen in Stuttgart, Köln und München finden Sie hier.

Von SZ-Autoren

Dass es ein Satz für die Geschichtsbücher werden würde, hatte sie gar nicht erwartet, sagt die Kanzlerin im SZ-Interview. Den Satz sprach Angela Merkel am 31. August 2015 bei einer Pressekonferenz aus: "Wir schaffen das."

Mit dieser zuversichtlichen Aussage reagierte Merkel auf eine Entwicklung, die bis heute als Flüchtlingskrise bezeichnet wird: Die Zahl der Menschen, die in Europa Schutz suchten, stieg sprunghaft an. Sie flohen vor Krisen in ihren Heimatländern, Bürgerkriegen und dem sogenannten Islamischen Staat. 2014 hatten etwas mehr als 600 000 Menschen in EU-Ländern Asyl beantragt. 2015 waren es mehr als 1,3 Millionen.

Die Bundesregierung nahm Hunderttausende von ihnen auf und setzte sich damit - vordergründig - über das Dublin-Übereinkommen hinweg. Es besagt: Der Staat, in den der Flüchtling nachweislich zuerst eingereist ist, muss dessen Fall bearbeiten. Das Übereinkommen gilt seit 1997. Seit 2013 ist Dublin III in Kraft: Es legt die genauen Kriterien fest, wer als zuständiges Land gilt. Dorthin soll sofort abgeschoben werden, wer sich irgendwo anders registriert. Das Dublin-Abkommen räumt aber jedem Land das sogenannte Selbsteintrittsrecht ein, es kann ein Asylverfahren also übernehmen, selbst wenn sich der Flüchtling zuvor bereits in einem anderen europäischen Land aufhielt.

Democracy Lab - Themendossiers

Was bewegt das Land? Das haben wir in der ersten Phase des Democracy Labs die Menschen in Deuschland gefragt. Fünf Themenkomplexe wurden am häufigsten genannt: Soziale Ungleichheit, Umweltschutz, Bildungspolitik, Flüchtlingspolitik und die Frage nach Werten in Politik und Gesellschaft. Darüber diskutieren wir jetzt online und bei Veranstaltungen in Berlin, Leipzig, Stuttgart, Köln und München. Als Basis für die Diskussion haben wir zu jedem Bereich ein Kompaktdossier zusammengestellt.

Statt Asylsuchende wie in den 20 Jahren zuvor den Ländern an den EU-Außengrenzen zu überlassen, nahm Deutschland 2015 fast eine halbe Million Anträge entgegen. Von Januar 2016 bis Juni 2017 kamen 370 400 Flüchtlinge, die meisten aus Syrien und Afghanistan, in die Bundesrepublik.

Ende 2016 waren weltweit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht - die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnung. Gezählt hat sie das UN-Flüchtlingshilfswerk. Innerhalb des eigenen Landes flohen rund 40,3 Millionen Menschen; in ein anderes Land 22,5 Millionen.

Beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, sind sind seit Anfang 2014 nachweislich fast 15 000 Menschen gestorben, hinzu kommt eine Dunkelziffer.

2016 verhandelte Angela Merkel mit der türkischen Regierung den EU-Türkei-Deal, der als Abkehr von der Willkommenspolitik verstanden wird: Wer über die Türkei in der EU ankommt, wird dorthin abgeschoben. Die Union will, wenn sie weiter regiert, noch mehr solcher Deals mit anderen Staaten abschließen. Die Grünen und die Linke wollen den Pakt mit der Türkei kündigen, weil sie ihn als inhuman erachten.

Parteien und Bürger streiten nicht nur über den Deal, sondern auch darüber, wie die EU Flüchtlinge künftig aufteilt, wen wir in Deutschland aufnehmen, wen wir abschieben und wie wir mit den Menschen umgehen, die hier sind. Dieses Dossier gibt einen Überblick über die umstrittensten Fragen und die wichtigsten Argumente.

Braucht Deutschland eine Obergrenze?

Die "Obergrenze" für Flüchtlinge ist Teil der Diskussion, seit CSU-Chef Horst Seehofer eine solche im Januar 2016 forderte (hier eine Chronik der Forderung). Seehofer schlug vor, die Grenze bei 200 000 Menschen pro Jahr zu setzen und drohte, ohne eine solche keinen Koalitionsvertrag zu unterschreiben. Die Kanzlerin, die auch Chefin der Schwesterpartei CDU ist, lehnt die Obergrenze allerdings bis heute ab. Das gilt auch für die übrigen Parteien, mit Ausnahme der AfD.

Befürworter einer Obergrenze argumentieren, dass das Land nicht unbegrenzt fremde Menschen aufnehmen könne. Deshalb müssten die Grenzen besser geschützt, die Zuwanderung kontrolliert und eingeschränkt werden. Sie argumentieren beispielsweise, dass Deutschland die Belastungen finanziell nicht stemmen könne und dass sich der Charakter des Landes durch die Einwanderung mehrheitlich muslimischer Menschen zu stark verändere.

Tatsächlich hat die Bundesrepublik 2015/2016 deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen als in den Jahren zuvor und auch im europäischen Vergleich. Betrachtet man andere Aufnahmeländer weltweit, fällt Deutschland aber weit zurück. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International meldete Ende 2016, dass Jordanien mit 2,7 Millionen weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat.

Es folgen die Türkei (2,5 Millionen), Pakistan (1,6 Millionen) und Libanon (mehr als 1,5 Millionen). Noch aussagekräftiger sind die Zahlen, wie viele Flüchtlinge andere Länder pro Kopf aufgenommen haben: Mit 183 Flüchtlingen pro 1000 Einwohnern liegt hier Libanon an erster Stelle. Jordanien liegt mit 87 Flüchtlingen pro 1000 Einwohnern auf Rang zwei. Bei dieser Betrachtung liegt Deutschland weit hinter anderen Aufnahmeländern. Zudem ist die Bundesrepublik wirtschaftlich bedeutend stärker als die meisten anderen Aufnahmeländer.

Was sagen die Deutschen zum Thema Obergrenze? Eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ergab Ende 2016, dass die Mehrheit der Deutschen (55 Prozent) es begrüßten, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufgenommen habe. 20 Prozent lehnten diese Aussage ab. Bei der Frage nach einer Obergrenze jedoch drehte sich das Bild: Mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) stimmte einer Obergrenze für Flüchtlinge zu. 34 Prozent lehnten sie ab. (Details zur Studie)

Obwohl die Obergrenze unter den Parteien umstritten ist, sind sich Spitzenpolitiker parteiübergreifend einig: Das Chaos im Spätsommer 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Heute erreichen viel weniger Menschen Europa: Die Balkanroute ist geschlossen, die Türkei kontrolliert ihre Küste und libysche Milizen stoppen viele Bootsflüchtlinge. Die hohen Flüchtlingszahlen gehören zumindest in Deutschland der Vergangenheit an - und damit auch ein Stück weit die Diskussion um eine Obergrenze. Jakob Schulz

Terror, Diebstahl, Übergriffe: Gefährden Flüchtlinge die innere Sicherheit?

Im Jahr 2016 ermittelte die Polizei bundesweit gegen mehr als zwei Millionen Menschen, die wegen einer Straftat angezeigt worden waren. Jeder Vierte von ihnen war Asylbewerber, Kriegsflüchtling, geduldet oder unerlaubt in Deutschland. Zieht man ausländerrechtliche Verstöße wie die illegale Einreise ab, bleiben noch 174 438 Tatverdächtige. Dabei verzeichnete das Ausländerzentralregister im Dezember 2016 insgesamt weniger als eine Million Asylbewerber und Asylberechtigte.

Allerdings erfasst die Kriminalstatistik nur Verdächtige und erwähnt nicht, wer von ihnen am Ende wirklich verurteilt wird. Vielen Studien zufolge werden Migranten häufiger als andere zu Unrecht verdächtigt und angezeigt. Die eigentlichen Täter sind möglicherweise seltener Flüchtlinge, als die Statistik vermuten lässt.

Junge Männer sind im Vergleich zu Frauen und älteren Männern häufiger gewalttätig. Das ist bei Deutschen und Ausländern so. Diese Risikogruppe ist unter Flüchtlingen überrepräsentiert: Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden 2016 etwa zwei Drittel der Asylanträge von Männern gestellt. Fast drei Viertel der Asylbewerber sind jünger als 30 Jahre.

Kritiker der Flüchtlingspolitik befürchten, dass Asylbewerber chauvinistische Weltanschauungen aus ihren Heimatländern mitbringen und deshalb Frauen belästigen oder sogar vergewaltigen. In der Silvesternacht 2015/16 wurden feiernde Frauen in Köln und anderen Städten auf der Straße angegriffen, belästigt und bestohlen. Die Täter sollen überwiegend Nordafrikaner gewesen sein. Die Polizei hat sie bis heute nicht ermittelt.

Flüchtlinge verübten 2016 und 2017 vier Terroranschläge in Deutschland: Sie griffen Menschen in der Regionalbahn bei Würzburg, bei einem Ansbacher Festival, auf einem Berliner Weihnachtsmarkt und in einem Supermarkt in Hamburg an.

Andererseits ist die 16-jährige IS-Sympathisantin, die Polizisten mit einem Messer attackierte, in Deutschland geboren. Mohammed Atta, der 2001 ein Flugzeug in den Nordturm des World Trade Centers steuerte, war zum Studieren nach Hamburg gekommen, wo er sich dann erst radikalisierte.

Die meisten Flüchtlinge aus muslimisch geprägten Ländern sind nicht radikal, viele sind vor Islamisten hierher geflohen. Und nach ihrer Ankunft werden sie eher Opfer von Attacken als Täter.

Die Attentäter von Berlin und Hamburg waren nur durch Behördenfehler noch in Deutschland. Damit gefährliche Menschen entdeckt werden, braucht das BAMF in seinen Ämtern und Ankunftszentren mehr Personal und bessere digitale Ausstattung; außerdem fehlen Polizisten. Darin sind sich die Parteien einig.

In Deutschland tauschen sich Landes- und Bundesbehörden, Polizei und Geheimdienste im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum aus. Dass in dem Zentrum "über verbindliche Maßnahmen entschieden werden kann", plant die Union. Die SPD will ein "Anti-Terrorzentrum auf europäischer Ebene" aufbauen.

Als Reaktion auf Terror und sexualisierte Übergriffe wurde im vergangenen Jahr das Abschiebungsrecht verschärft. Jana Anzlinger

Wen wollen wir aufnehmen und wen sollen wir abschieben?

Sie arbeiten, sie sprechen deutsch, ihre Kinder gehen zur Schule: Immer wieder werden überraschend Menschen abgeschoben, die in die Gesellschaft integriert sind. Umgekehrt sind gewalttätige und kriminelle Migranten immer noch hier.

Ob jemand ausreisepflichtig ist, hängt nicht vom Grad der Integration ab, sondern vom Aufenthaltsstatus. Wer Asyl beantragt hat, darf sich während des Verfahrens in Deutschland aufhalten. Die Behörden prüfen, ob der Schutzsuchende innerhalb seines Herkunftslandes irgendwo sicher wäre. Sie brauchen dafür im Durchschnitt sieben Monate.

Im Januar bis Juli 2017 entschied das BAMF über etwa 444 000 Anträge, davon in fast 200 000 Fällen positiv. Die sogenannte Gesamtschutzquote liegt damit bei 44,4 Prozent. Mehr als 92 000 Menschen wurden als Flüchtlinge anerkannt. Asyl erhielten nur 2631 Menschen, also 0,6 Prozent der Antragsteller. Mehr als 75 000 Mal wurde subsidiärer Schutz gewährt. Der ist für Menschen aus Kriegsgebieten gedacht, aktuell vor allem für Syrer. Der Schutz ist befristet, weil sich die Lage in der Heimat wieder ändern könnte.

Lehnt das Amt den Antrag ab, ist der Antragsteller ausreisepflichtig, soll Deutschland verlassen und könnte abgeschoben werden. Geduldete wurden auch abgelehnt, dürfen aber hier bleiben, weil sie zum Beispiel zu krank zum Reisen sind oder weil ihr Herkunftsland sich weigert, sie zurückzunehmen.

Vergangenes Jahr wurden 25 375 Menschen abgeschoben, davon die meisten in den Westbalkan, so die Bundesregierung. Hunderttausende andere Menschen leben weiterhin in Deutschland, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde.

Viele Bürger fragen sich: Wenn die Behörden der Bundesländer, die für das Abschieben zuständig sind, so oft ein Auge zudrücken, warum tun sie das dann nicht selektiv? Warum setzen sie ausgerechnet die gut Integrierten in den Flieger, und nicht Arbeitslose oder Gefährder?

Für eine solche Auswahl gibt es allerdings keine rechtliche Grundlage; außerdem würde das falsche Anreize vermitteln, sagen Kritiker. Ohnehin finden viele die lasche Abschiebepraxis problematisch. Sie sende die Botschaft aus, dass jeder bleiben darf, der es hierher geschafft hat. Das könne Menschen zur Flucht nach Deutschland animieren.

Seit März 2016 ist das Asylpaket II in Kraft, das Abschiebungen erleichtern soll, etwa wenn jemand ein Attest vorzeigt, aber nicht akut lebensbedrohlich erkrankt ist. Außerdem gelten Straftaten jetzt als Grund für Ausweisung und Abschiebung.

Wer hierzulande das Gesetz bricht, habe das Recht auf Mitleid verwirkt, gefährde "den gesellschaftlichen Frieden" und senke die Akzeptanz, die "die einheimische Gesellschaft" den Flüchtlingen entgegenbringe. So begründet die Bundesregierung das Gesetz.

Wir sollten Kriminelle lieber bestrafen, einsperren und resozialisieren, statt sie auf die Bevölkerung eines anderen Landes loszulassen, argumentieren Linke und Grüne. Beispielsweise nach Afghanistan schiebt die Bundesregierung ab, obwohl es laut Menschenrechtsorganisationen kein sicheres Land ist. Schicken wir Menschen zur Strafe für ihr Verbrechen dorthin, dann haben wir die Todesstrafe wieder eingeführt, sagen Kritiker. Jana Anzlinger

Noch mehr Menschen aufnehmen, unterbringen, integrieren - können wir uns das leisten?

Flüchtlingspolitik kostet den Staat und damit die Steuerzahler jedes Jahr mehr als 20 Milliarden Euro. Ein Drittel davon gibt die Bundesregierung aus, um in den Herkunftsländern Fluchtursachen zu bekämpfen.

Kaum ein Land steht wirtschaftlich so gut da wie Deutschland. Wer soll also die Menschen aufnehmen, wenn nicht wir? Das fragen die einen.

Wir haben kein Geld für anderer Leute Probleme übrig, argumentieren die anderen: Jeder fünfte Deutsche ist arm oder von Armut bedroht; Straßen und Kitas leiden unter dem Investitionsstau von bundesweit etwa 100 Milliarden.

Die Bundesregierung soll nur noch die benötigten Fachkräfte aufnehmen und den Familiennachzug einschränken, fordert die AfD. Das würde allerdings gegen das Völkerrecht verstoßen. Berufliche Ausbildung darf für Arbeitsvisa oder beim Einbürgerungsantrag zählen, aber nicht im Asylverfahren.

Eine weitere AfD-Idee: "Sozial- und Gesundheitsleistungen für Asylbewerber dürfen keine Anreizwirkung entfalten." Ob Staatsgelder wirklich ein Anreiz sind, wird kontrovers diskutiert. Asylbewerbern wird zwar die Krankenversicherung bezahlt, doch Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Grundsicherung bekommen sie nicht. Das Taschengeld, das sie pro Monat erhalten, unterscheidet sich zwischen den Bundesländern und liegt meist bei etwa 100 Euro.

Das gilt aber nur, bis der Antrag bearbeitet ist. Wer Asyl erhält, darf unter bestimmten Voraussetzungen arbeiten oder eben Sozialleistungen beziehen. Umso wichtiger sei es, von Anfang an in Integration und Sprachkurse zu investieren, damit Ankömmlinge von heute nicht morgen arbeitslos seien, argumentieren Hilfsorganisationen und linksgerichtete Politiker.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) prognostiziert, "dass die Arbeitslosigkeit unter anerkannten Flüchtlingen anfangs sehr hoch sein wird", dann aber "die Arbeitslosenquote im Zeitablauf langsam sinkt". DIW-Forscher haben errechnet, dass Deutschland allerspätestens 2025 keine Verluste mehr durch Flüchtlingsmigration macht. Der Nutzen für die Wirtschaft überwiegt dann die Kosten; das Pro-Kopf-Einkommen der Deutschen steigt. Demnach würden Flüchtlinge das Land nicht ärmer machen, sondern langfristig sogar reicher.

Experten warnen seit Jahren vor dem demografischen Wandel. Er mache Einwanderer nötig. Die stimulieren nicht nur die Angebotsseite, indem sie produzieren helfen. Sie gehören auch zur Nachfrageseite und kurbeln so die Wirtschaft zusätzlich an.

Um die akut anfallenden Kosten zu stemmen, fordern SPD, Grüne, FDP und Linke Ausgleichszahlungen innerhalb der EU: Die Mitgliedstaaten, die verhältnismäßig wenige Menschen aufnehmen, sollen Geld zahlen, das die engagierten Staaten für Flüchtlinge in ihrem Land verwenden können. Jana Anzlinger

Bedrohen Flüchtlinge unsere Leitkultur?

Einige Menschen befürchten die Ausbreitung von Parallelkulturen und den Verlust der kulturellen und nationalen Identität. Protestbewegungen warnen vor einer "Islamisierung" durch Migranten.

Die Zahlen sprechen dagegen, dass muslimische Flüchtlinge und Zuwanderer Deutschland stark verändern. 82,7 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik, die Zahl der Muslime schätzte das BAMF Ende 2015 auf 4,4 bis 4,7 Millionen. Das sind weniger als sechs Prozent. Selbst wenn alle wahlberechtigten Muslime für eine Islam-Partei stimmten, würde die es wohl kaum in den Bundestag schaffen - geschweige denn eine Mehrheit zustande bringen, um Gesetze zu beschließen.

Gruppen mit dem gleichen religiösen, nationalen oder ethnischen Hintergrund schotten sich manchmal von der Gesellschaft ab. Solche Parallelgesellschaften sind auch eine Reaktion auf die Ablehnung der Identität von Menschen durch die Mehrheitsgesellschaft. Unter Muslimen in Deutschland sind sie kaum verbreitet: 78 Prozent von ihnen haben in ihrer Freizeit häufig oder sehr häufig mit Nichtmuslimen zu tun.

Manche Auslegung des Islam lässt sich nicht mit den Gesetzen, Regeln, Normen und Werten in unserem Land vereinbaren. Die Diskriminierung von Frauen hat in unserer aufgeklärten Gesellschaft nichts verloren. Dass Frauen ihr Gesicht verhüllen und den Handschlag verweigern, entspreche nicht dem Miteinander, das bei uns gepflegt wird. "Wir sind nicht Burka", meint Thomas de Maizière.

Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung spricht aber anderen Auslegungen zufolge eher gegen ein Burka-Verbot: Zwar darf keine Frau gedrängt werden, Kopftuch oder Burka zu tragen. Aber keine, die das freiwillig tut, sollte gezwungen werden, sie abzulegen.

Union und AfD wollen eine Leitkultur, an der sich alle orientieren, damit das kulturelle Erbe Deutschlands mit seinen bedeutenden Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern erhalten bleibt, und das in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung.

Die Kultur anderer Nationen beeinflusste schon immer die deutsche Gesellschaft und umgekehrt. Es ist schwierig, eine nationale Leitkultur zu bestimmen oder eine deutsche Identität zu definieren. Herkunft, Sprache, Religion, Musik oder Literatur sind hier so vielfältig, dass sich kaum spezifische Merkmale einer deutschen Identität identifizieren lassen. Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, können unsere bereichern.

Eine "alltägliche Kultur des Respekts, der Anerkennung, der Kooperation" fordert der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Einen Respekt, der allerdings nur solche Weltanschauungen gezollt wird, die die Menschenrechte in vollem Umfang anerkennen, wie der Philosoph Michael Schmidt-Salomon sagt.

Zur christlichen und jüdischen Prägung unseres Landes kommt die durch die Aufklärung hinzu, die zur Glaubens- und Religionsfreiheit, zur Meinungsfreiheit und der Unantastbarkeit der Würde des Menschen geführt hat. Alle diese Werte können auch Muslime in Anspruch nehmen. Markus C. Schulte von Drach

Grafik: Benedict Witzenberger

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