Democracy Lab in Jena:Jenas Angst vor der Bummelbahn

Democracy Lab in Jena: Bald nur noch ein seltenes Bild: ein ICE am Halt Jena Paradies.

Bald nur noch ein seltenes Bild: ein ICE am Halt Jena Paradies.

(Foto: Jessy Asmus)

Nicht jeder freut sich über die neue, schnelle ICE-Verbindung zwischen Berlin und München. Jena etwa verliert seinen Anschluss an den Fernverkehr. Wenn Großprojekte Verlierer produzieren.

Reportage von Ulrike Nimz, Jakob Schulz und Sebastian Gierke

Kunst hat die Eigenheit, immer dann richtig aufsehenerregend zu sein, wenn sie auf Missstände aufmerksam macht. Manchmal verhindern eben jene Missstände aber auch, dass sie überhaupt Aufsehen erregt. Mit dieser etwas demotivierenden Dialektik haben sie es derzeit in Jena zu tun. "Bewegtes Land - Inszenierung für vorbeifahrende Züge" heißt ein Kunstprojekt der Bauhaus-Universität Weimar. Geplant ist es für das letzte Augustwochenende: Zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt sollen Zugreisende Zeuge szenischer Darstellungen werden. 1000 Mitwirkende werden sich an der 30 Kilometer langen Strecke von Jena nach Naumburg zu Chören und bunten Tableaus vivants formieren. Das Zug-Theater soll Pendler dazu bringen, die Excel-Tabellen zu schließen und die Augen zu öffnen für die Landschaft, die vorbeirauscht. Dumm nur: An jenem Wochenende wird kein einziger ICE auf der Strecke fahren. Wegen Bauarbeiten werden die Fernverkehrszüge über Erfurt umgeleitet.

Ein Vorgeschmack auf das, was kommt: Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember ist Schluss mit dem getakteten ICE-Verkehr durch das Saaletal. Statt stündlich geht es dann nur noch morgens und abends von Jena aus auf direktem Wege nach Hamburg, Berlin, Leipzig oder München. Wer tagsüber reisen will, muss erst per Regionalbahn nach Leipzig oder Erfurt fahren. Wenn der ICE nicht mehr in der Stadt hält, könnte die Wirtschaft Schaden nehmen, die Universität an Bedeutung verlieren und die Hochtechnologie-Forschung abwandern, so die Befürchtung.

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Jena, das ist die Stadt der Optiker und Glasriesen, Carl Zeiss und Schott, zwei Unternehmen, die die Wende nicht nur überstanden haben, sondern auch heute sehr gut dastehen. Unternehmen wie Intershop, SAP oder Salesforce sind in Jena ansässig. Die Hochschulen und Institute haben einen hervorragenden Ruf. Forschung im Dienste der Massen, Lehre jenseits der Massen. Ein Viertel der knapp 110 000 Einwohner sind Studierende. Es gibt vergleichsweise wenige Arbeitslose, die Steuereinnahmen sind hoch, die Mieten ebenfalls, und mit dem Aufschwung bekam die Stadt allerlei Etiketten: Jena, die Boomtown, das "München des Ostens". Und das alles soll bedroht sein? Durch einen Fahrplan?

Gigantisches Gleiserücken

VDE-8 heißt das, was auf Jena zukommt: Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8. Es ist ein gigantisches Gleiserücken, in dessen Folge die thüringische Landeshauptstadt Erfurt als neuer Bahnknotenpunkt etabliert und eine neue ICE-Strecke eröffnet wird. Die Fahrzeit Berlin - München wird sich von sechs auf vier Stunden verkürzen. Für viele Großstadtpendler ist das ein Segen; für die kleineren Städte entlang der alten Strecke, wie Lichtenfels und Saalfeld, ein Fluch. Auch am Halt mit dem schönen Namen Jena-Paradies wird kein Schnellzug mehr stoppen. Dabei war er dafür erst vor gut einem Jahrzehnt für etwa 21 Millionen Euro ausgebaut worden.

Sascha Sauer trennt nur eine Glasscheibe vom Paradies. Durchs Panoramafenster seines Büros blickt er auf die schroffen Muschelkalkhänge der Kernberge, darunter fließt trübe und träge die Saale. Am linken Flussufer liegt der Stadtpark, gleich daneben hält der ICE. Sauer, 46, ist Geschäftsführer der Softwarefirma diva-e. Gemeinsam mit rund 100 Mitarbeitern am Standort Jena und weiteren 450 in anderen deutschen Städten entwickelt Sauer Internet-Anwendungen. Für Kunden wie die Deutsche Bank, BMW oder Deichmann programmiert das Unternehmen Online-Shops, Apps oder das Online-Banking. Natürlich, in Zeiten der Digitalisierung können die Programmierer und Designer den Großteil der Arbeit per Videotelefonat und Computer erledigen. Und trotzdem ist es oft nötig, von Angesicht zu Angesicht zu sprechen: "Es ist einfach wichtig, mit den Kunden auch mal persönlich zu diskutieren und zu streiten über die richtige Richtung", sagt Sauer. Heute setzt er sich deshalb regelmäßig in den Zug, stöpselt den Laptop ein und beginnt zu arbeiten. In der Regionalbahn dagegen gebe es keine Steckdosen, keinen Speisewagen, keine Sitzplatzreservierung. Ein Rückschritt, findet Sauer. Die Option Auto ist noch schlechter. Wer Auto fährt, kann gar nicht arbeiten, steht im Stau und ist im Zweifel schon gestresst, bevor der Termin begonnen hat.

Democracy Lab in Jena: Der Blick aus Sascha Sauers Büro.

Der Blick aus Sascha Sauers Büro.

(Foto: Jessy Asmus)

Sauer ist mit seinen Sorgen nicht allein. Unternehmen, Forschungsinstitute, Hochschulen und Politiker aller Parteien haben sich zum "Bündnis Fernverkehr für Jena" zusammengeschlossen. Mihajlo Kolakovic ist einer der Sprecher des Bündnisses, außerdem thüringischer Landesvorsitzender des Wirtschaftsrates der CDU und Personalberater. Also einer, der sehr daran interessiert ist, dass es Unternehmen in der Stadt gibt, die stetig neue Führungskräfte oder Facharbeiter suchen. "Ich bin lang genug dabei, um zu wissen, wie wichtig die Verkehrsanbindung für einen Standort ist", sagt er. Und schwärmt dann von Jena, so wie ein Personalberater eben von einer Stadt schwärmt: die zweithöchste Akademikerdichte in Deutschland, Wirtschaftswachstum, Prosperität.

"Argumente wurden weggewischt oder sogar verfälscht"

Kolakovic wohnt im Jenaer Westviertel, oben, am Hang. Die Automobile, die vor den prächtigen Villen parken, lassen vermuten: Die Stammklientel der Deutschen Bahn wohnt hier nicht. Kolakovic bittet in sein Büro, dunkle Möbel mit seidigem Bezug, sein Stuhl sieht ein bisschen aus wie ein Thron. Von hier aus hat er Allianzen geschmiedet. Mit anderen betroffenen Städten entlang der Strecke, mit Saalfeld oder Rudolstadt, bis nach Nordbayern reicht das Netzwerk. Hier mussten aber auch Niederlagen verdaut werden, Antworten auf offene Briefe zum Beispiel. "Die kamen oft nur aus der dritten Reihe des Verkehrsministeriums, Argumente wurden weggewischt oder sogar verfälscht."

Längst ist nicht alles zusammengewachsen in Deutschland

Seit mittlerweile sechs Jahren arbeitet das Bündnis für Fernverkehr daran, dass der Wegfall der ICE-Anbindung so schmerzfrei wie möglich für die Stadt wird. 10 000 Menschen pendeln jeden Tag von Jena aus in andere Städte, 25 000 Pendler fahren in die Stadt hinein. Mit dem Fahrplanwechsel müssen viele der Bahnfahrer neben einer längeren Anreisezeit auch mehr Zwischenhalte in Kauf nehmen. Bis ins 100 Kilometer entfernte Leipzig werden es 17 sein.

Dem Land sei es nicht gelungen, einen adäquaten Ersatz für den ICE zu schaffen, klagt Kolakovic. "Unsere große Schwierigkeit ist die Verbindung Leipzig, Berlin, Hamburg", sagt er. Die sei ab 2018 fast vollständig abgerissen. Erst von 2023 an sollen wieder IC-Züge in Jena halten.

Verkehrsprojekte spalten oft die Gesellschaft

Auch wenn das Bauprojekt VDE-8 die deutsche Einheit im Namen trägt: Längst ist nicht alles zusammengewachsen in diesem Land. Gerade große Verkehrsprojekte spalten oft die Gesellschaft: in Kritiker und Befürworter, Angebundene und Abgehängte, Gewinner und Verlierer. 2011 untersuchten Verkehrswissenschaftler der TU Dresden, wie gut die 80 größten Städte Deutschlands an den Bahnverkehr angeschlossen sind. Erhoben wurde unter anderem die Reisezeit in die Nachbarstädte. Das Ergebnis: Westdeutsche Städte sind überwiegend gut, ostdeutsche eher schlecht erreichbar. Vorn lagen Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hannover und Köln. Die Mehrzahl der ostdeutschen Städte landete beim Ranking abgeschlagen im letzten Drittel. Besonders abgehängt sind demnach Städte in Sachsen. Dresden landete in der Studie auf Platz 75, Chemnitz erreichte nur den 78. Platz. Noch schlechter ist die Bahnanbindung nur für Reisende aus Cottbus oder aus Trier in Rheinland-Pfalz.

Wie aussagekräftig sind solche Ranglisten? Der Ökonom Klaus Heiner Röhl vom Kölner Institut für Wirtschaftsforschung (IW) beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, aus welchen Gründen Unternehmen sich für bestimmte Standorte entscheiden - oder dagegen. Für Forschung, Wissenschaft und hochtechnologische Branchen sei ein guter Anschluss an den Fernverkehr von großer Bedeutung, sagt Röhl. Gleichwohl spielten eine Vielzahl anderer Faktoren für Unternehmen eine Rolle, sagt Röhl. Wichtiger sei es beispielsweise noch immer, eine Autobahn vor der Tür zu haben. Der Wirtschaftsforscher ist überzeugt, dass die Jenaer sich keine allzu großen Sorgen machen sollten. "Ich glaube nicht, dass die Frage ICE ja oder nein die Entscheidungen von Unternehmen so stark beeinflusst", so Röhl.

Klaus Bartholmé hat andere Erfahrungen gemacht. Der Kanzler der Friedrich-Schiller-Universität empfängt Gäste unter einer weißen Stuckdecke; sein Schreibtisch steht zwischen großen Blumenkübeln. Fünf Jahre ist es her, da haben sie in Jena den Wettkampf um die Ansiedlung eines großen Instituts schon einmal verloren. Das Nationale Biodiversitätszentrum hat seinen Hauptstandort nun in Leipzig. Das Hauptargument damals: die bessere Flughafenanbindung.

Bartholmé ist promovierter Mathematiker. Er kann sich ausrechnen, was passiert, wenn die schnellen Verbindungen Richtung Berlin und München wegfallen. Internationale Studierende könnten sich gegen Jena entscheiden, wenn der Weg zu den Flughäfen in Leipzig oder Berlin zu beschwerlich sei, so Bartholmé. Auch Führungskräfte zu gewinnen, werde nach dem Fahrplanwechsel nicht leichter - gerade, wenn es um Professorinnen und Professoren geht. "Für deren oft genauso hochqualifizierte Partner ist es mitunter schwer, ebenfalls einen Job in Jena zu bekommen. Diese Familien sind auf gute Pendlerverbindungen in die Großstädte angewiesen", sagt der Kanzler.

Und die Studierenden? Was ist, wenn die vom Paradies mal genug haben?

An einem Freitagnachmittag sind in Jenas Straßen viele junge Menschen mit Rucksäcken und Trolleys unterwegs, zur Freundin nach Leipzig, zu Elton John nach Berlin. Kaum jemand nimmt den ICE. Das häufigste Argument ist auch das naheliegendste: zu teuer. Wer spontan von Jena aus nach München will, zahlt 88 Euro. Die Fahrt mit dem Fernbus oder die Mitfahrgelegenheit gibt es schon für 20 Euro.

Das Land, so scheint es, ist auch ohne ICE in Bewegung - und trotz Baustellen. Das Schienentheater im Saaletal jedenfalls soll Ende August auch ohne Fernzüge stattfinden. Die Künstler nehmen es gelassen: In der Regionalbahn seien immerhin die Fenster größer. Und wer langsam fährt, kann besser schauen.

Dieser Beitrag ist Teil des SZ-Projekts Democracy Lab, in dem wir vor der Wahl über Ihre Themen diskutieren wollen. Lesen Sie mehr dazu:

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