Degler denkt:Mindestlöhne? Na klar.

Bundespräsident Horst Köhler hat eine große Rede gegen globales Unrecht gehalten. Seine Forderungen gelten aber auch für die deutsche Innenpolitik.

In seiner unterschätzten, vielleicht stärksten Rede seit Amtsantritt hat Bundespräsident Horst Köhler über den Reichtum der Industriestaaten gesprochen, der die Armen auf der Welt noch ärmer macht. Es war ein großer Beitrag zur internationalen Politik, der auch den Vorsitzenden der Nord-Süd-Kommission, den UN-Generalsekretär oder unser aller Benedikt geschmückt hätte.

Und er wird Beck, Bütikofer und Lafontaine besser gefallen haben als beispielsweise Westerwelle. Denn Köhler zog auch eine Parallele zur Innenpolitik: Der Aufstieg der einen dürfe nicht den Abstieg der anderen bedeuten.

Der Bundespräsident hat keine Richtlinienkompetenz. Aber eine Möglichkeit, seinen moralischen Imperativ umzusetzen, liegt auf dem tagespolitischen Tisch: Die von Vizekanzler Franz Müntefering initiierte Debatte um die Einführung von Mindestlöhnen. Das mag zwar auch ein erster Pflock zur Vorbereitung des nächsten Wahlkampfes sein.

Herausforderung für jede Regierung

Doch der Kampf gegen Arbeit in Armut ist genau eines jener Themen, an denen sich Qualität und Gestaltungskraft von Regierungen messen lassen. Kann, will und wird die Große Koalition, darum geht es, den Bürgern ein Arbeitsleben oberhalb der Armutsgrenze garantieren und so einen Beitrag zum sozialen Frieden und zur Wahrung der Menschenwürde leisten?

Um gleich meinen Ruf als Neoliberaler zu festigen: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass in der Bundesrepublik fast jeder, der nicht geistig, körperlich oder psychisch behindert ist, sein Auskommen durch Arbeit sichern kann oder können müsste. Ich glaube, dass Märkte nur dann wirklich gut funktionieren, wenn sie ein möglichst freies, aber faires Verhältnis zwischen Angebot, Nachfrage und konjunkturellen Bedingungen aufweisen. Und ich meine, dass sich die Enthaltung des Staates in Tariffragen bewährt hat.

Doch die Lage ist anders: Die Macht- und Mitglieder-Erosion der Gewerkschaften in Kombination mit dem rasanten Ausscheiden von immer mehr Unternehmen aus tariffähigen Arbeitgeberverbänden haben trotz guter Konjunktur zu einer gesellschaftlichen Schieflage geführt: Zwischen zwei Millionen und dreieinhalb Millionen Deutsche arbeiten für Niedriglöhne.

Rund 600.000 von ihnen, die meisten Vollzeitarbeiter, beziehen zusätzlich Arbeitslosengeld 2. Rund zwei Millionen hätten ebenfalls darauf Anspruch, üben ihn aber aus Scham oder anderen Gründen nicht aus. Zu den Branchen mit dem schlimmsten Lohndumping gehören das Hotel- und Gaststättengewerbe, Land- und Fortwirtschaft, Friseure und Bäcker.

Wer sich mit dem Thema beschäftigt, weiß: Die tatsächlichen Wirkungen von Mindestlöhnen kennt kein Mensch genau. Studiert man die ungezählten internationalen Studien zum Thema, finden sich - meist abhängig vom Auftraggeber - widersprüchliche Erkenntnisse.

Die Hauptargumente dagegen lauten: Mehr Schwarzarbeit, mehr Arbeitsplatzabwanderung ins Ausland, Arbeitsplatzabbau bei renditeschwachen kleinen und mittleren Unternehmen. Die Pro-Thesen heißen: Verringerung der staatlichen Transferleistungen, Kaufkrafterhöhung und dadurch Konsumanregung. Allerdings ist nichts davon hieb- und stichfest bewiesen. Zu jeder Untersuchung gibt es eine Gegenuntersuchung, die jeweils behaupteten Kausalitäten sind fraglich.

Beispiel Luxemburg

Tatsache ist, dass die Einführung von Mindestlöhnen allein noch gar nichts verbessert. Entscheidend für den arbeitsmarktpolitischen und gesellschaftlichen Effekt sind ihre Höhe, ihre strukturelle Zusammensetzung und ihr Verhältnis zum Durchschnittseinkommen.

Im Nachbarland Luxemburg beispielsweise liegt das garantierte Mindesteinkommen bei rund 1570 Euro im Monat (9,08 pro Stunde) und damit bei knapp 50 Prozent des Durchschnittseinkommens, ohne dass nennenswerte unerwünschte Nebeneffekte zu beklagen sind - im Gegenteil: Das Land hat europaweit die geringste Arbeitslosenquote unter Geringqualifizierten. In den USA steht der Satz dagegen umgerechnet bei 4.34 Euro pro Stunde, was noch unter einem Drittel des Durchschnittseinkommens liegt und entsprechend wenig mit Menschenwürde zu tun hat.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso es keine wirklich gewichtigen Einwände gegen die Einführung von Mindestlöhnen gibt.

Wie also findet man einen einerseits gerechten und andererseits leistbaren Betrag? Eine Möglichkeit ist die in den 90er Jahren von Tony Blair eingeführte Low Pay Commission, damals ein Reflex auf die Ergebnisse der von seiner Vorgängerin Maggie Thatcher betriebenen Umverteilungspolitik von unten nach oben. Die neunköpfige Kommission besteht aus je drei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie drei Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern. Sie empfiehlt jährlich eine Anpassung der Mindestlöhne, die Regierung winkt den Vorschlag durch. Aktueller Stand des Stundenlohnes auf der Insel: 7,96 Euro.

Variante zwei: Die Kosten werden nicht allein von der Wirtschaft getragen, sondern auch vom Staat. Wer unter der definierten Grenze verdient, wird über eine Art negative Lohnsteuer bezuschusst.

Variante drei: Man macht es wie die Engländer, schützt aber kleine und mittlere Unternehmen. Beispielsweise, indem man beim Überschreiten eines bestimmten Verhältnisses von Umsatz und Lohnsummen Steuererleichterungen gewährt.

Reihe an Möglichkeiten

Es gibt eine ganze Reihe an Möglichkeiten, von indexierten Modellen, die auch Lebenshaltungskosten und Inflation berücksichtigen, bis hin zu reinen Staatsvorgaben. Was die meisten Modelle miteinander verbindet: Sie sind untereinander kombinierbar und lassen sich, je nach Branche, Konjunktur oder Region, sehr fein austarieren. Brummt die Wirtschaft, liegt der Garantielohn höher, geht es einer Branche rezessiv schlecht, fällt er schwächer aus.

Kurzum: Es gibt keine wirklich gewichtigen Einwände gegen die Einführung - im Gegenteil: Mindestlohn-Modelle lassen sich so fein steuern, dass negative Wirkungen minimiert werden können. Wer Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip vertritt, kann kaum anderer Meinung sein.

Und auch die Kanzlerin, die gerade erst dafür plädiert hat, der Aufschwung müsse bei allen ankommen, sollte Gefallen daran finden können. Dafür bekäme sie ein großes Stück sozialen Frieden im Land. Und etwas weniger Streit und Stillstand in der zweiten Halbzeit der Koalition.

Dieter Degler ist Publizist und Unternehmensberater und war langjähriger Chefredakteur von Spiegel online.

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