Debatte um Sterbehilfe:Die große Unehrlichkeit

Sterbehilfe

Eine Therapeutin im Hospiz St. Martin in Stuttgart mit einer todkranken Bewohnerin.

(Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Wer gegen aktive Sterbehilfe ist, muss das Leid am Lebensende lindern. Sterbende Menschen haben ein recht auf eine bestmögliche Lebensqualität. Die Bundespolitik stellt nur die Weichen - die Umsetzung muss vor Ort erfolgen.

Von Alois Glück

Die Debatte über ein Verbot der organisierten Suizidbeihilfe tritt in ihre entscheidende Phase; nun liegen die verschiedenen Ansätze von Abgeordneten des Deutschen Bundestags vor. Ich trete für ein strafrechtlich bewehrtes Verbot jeder Form der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung ein. Damit will ich nicht mündige Bürger bevormundet sehen.

Christen müssen das Recht auf Selbstbestimmung hoch achten. Dieses Recht ist aber nur durch ein Verbot der organisierten Suizidbeihilfe gegen die Fremdbestimmung durch den gesellschaftlichen Erwartungsdruck zu schützen. Wenn entsprechende Angebote einmal etabliert sind, wird zunehmend von schwerstkranken und sterbenden Menschen erwartet werden, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen. Daher ist gerade zum Schutz eines qualifizierten Selbstbestimmungsrechts dieses Verbot dringend nötig.

Es gibt für viele Situationen und Konstellationen am Ende des Lebens längst wirksame Handlungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht. Mit ihnen können schwerkranke Menschen und ihre Angehörigen vielen Sorgen und Ängsten begegnen, zum Beispiel der Befürchtung, am Lebensende der Apparatemedizin ausgeliefert zu sein.

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"Wir brauchen eine Kultur der Wertschätzung gegenüber Sterbenden. Die aber kostet Geld", sagt Alois Glück.

(Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Allerdings werden diese Instrumente oft nur unzulänglich eingesetzt oder berücksichtigt. Das gilt vor allem für das wichtigste dieser Instrumente, für die moderne Palliativmedizin. Sie kann, wenn sie richtig ausgebaut ist, schwerkranken Menschen Leiden ersparen und die Angst vor einer unerträglichen letzten Wegstrecke des Lebens nehmen.

Richtungsentscheidung für unsere Gesellschaft

Wenn die Möglichkeiten der Palliativmedizin ausgeschöpft werden, gibt es auch keine zwingenden Gründe für die rechtliche Absicherung des assistierten Suizids durch Ärzte. Nach den Erfahrungen vieler Palliativmediziner können körperliche Schmerzen sehr wirksam bekämpft werden. Alle anderen Motive für einen Suizid dürfen nicht Maßstab für eine Beihilfe werden, da ansonsten eine allseits gewollte Abgrenzung zu psychischen Erkrankungen nicht mehr möglich ist.

Das Problem, ist allerdings: Die Palliativmedizin ist noch nicht so ausgebaut, wie sie ausgebaut sein könnte, sein müsste. Immer noch leiden viele schwer kranke und sterbende Menschen Schmerzen, die sie nicht erleiden müssten. Immer noch kennen viele Ärzte die Methoden der Schmerzvermeidung nicht oder scheuen sich, sie anzuwenden. So lange das so ist, haben die Argumente für ein Verbot des assistierten Suizids eine Schwäche: Sie verweisen auf eine Alternative, doch die gibt es noch in unzureichendem Maß.

Die Debatte der vergangenen Monate hat gezeigt, dass es um mehr als medizinische und pflegerische Maßnahmen und rechtliche Normen geht. Es geht um eine Richtungsentscheidung für unsere Gesellschaft. Es geht um die Solidarität mit schwerkranken und sterbenden Menschen.

Zur Person

Alois Glück, 74, ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Der CSU-Politiker und ehemalige Präsident des Bayerischen Landtags engagiert sich zudem in der Hospizbewegung.

Gemeinschaftsaufgabe für Bürger und Staat

Deshalb muss ein Verbot der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung mit einer gesundheitspolitischen Initiative zum Auf- und Ausbau der Palliativmedizin und der Hospize einhergehen. Eine umfassende und flächendeckende Palliative Care ist der Weg zu einem lebensorientierten Umgang mit dem Prozess des Sterbens und dem nahenden Tod. Auch Patienten in der letzten Lebensphase haben ein Recht auf bestmöglichen Lebensqualität.

Das ist eine große Gemeinschaftsaufgabe für Bürger und Staat; sie verlangt nach einem ganzheitlichen Aktionsprogramm. Die entsprechende Gestaltung der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen durch den Bundestag ist da nur ein erster Schritt. Ebenso wichtig ist es, in unserer Gesellschaft eine Kultur der Wertschätzung gegenüber kranken und sterbenden Menschen zu entwickeln, das bürgerschaftliche Engagement zu fördern und auszubauen.

Die vom ehrenamtliche Engagement geprägte Hospizbewegung muss mit den Fachangeboten der Palliativmedizin und der Palliativpflege vernetzt werden sowie mit den entsprechenden ambulanten und stationären Diensten. Die Palliativmedizin muss in der Politik, im Gesundheitswesen und in der medizinischen Forschung und Lehre den Rahmen und die Unterstützung erhalten, die angesichts ihrer Bedeutung für Schwerstkranke und für sterbende Menschen notwendig ist.

Noch immer haben zu wenig Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen und Lebensräumen auch tatsächlich einen Zugang zu diesen Angeboten. In den vergangenen Jahren wurden mit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung mit entsprechenden Stationen in den Krankenhäusern und mit der Errichtung von stationären Hospizen wichtige Fortschritte erreicht. Doch für ein umfassendes und für alle zugängliches Angebot ist eine weitere große gemeinsame Anstrengung notwendig.

Es fehlen derzeit gesetzlich geregelte Angebote für schwerstkranke und sterbende Menschen, die keiner spezialisierten, wohl aber einer allgemeinen Palliativversorgung im ambulanten Bereich bedürfen. Es muss an schwerstkranke und sterbende, auch demenzerkrankte Menschen in Pflegeheimen und in Allgemeinkrankenhäusern gedacht werden. Ihnen muss auch ohne Palliativstation eine palliative Behandlung zur Verfügung stehen.

Lebensqualität und Selbstbestimmung bewahren

Wir brauchen also dringend eine systematische Weiterentwicklung der regionalen ambulanten Hospiz- und Palliativversorgung mit dem Ziel, allen Patienten einen sicheren und gleichen Zugang auch zu einer allgemeinen Palliativversorgung zu ermöglichen. Ärzte und Pflegekräfte müssen sich auch dann mit der Palliativmedizin auskennen, wenn sie in einem durchschnittlichen Krankenhaus arbeiten oder einer Praxis für Allgemeinmedizin. Dann erst ist die Basis für die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen gesichert.

Für sie gilt es Lebensqualität und Selbstbestimmung zu bewahren und, wenn möglich, sogar zu verbessern, damit sie in Würde und ihrem Wunsch entsprechend leben und sterben können.

Die Bundespolitik kann hier nur die Weichen stellen. Die Realisierung aber muss vor Ort geschehen. Sie ist also eine Aufgabe der Landes- und Kommunalpolitik, der freien Wohlfahrtspflege, des bürgerschaftlichen Engagement. Dies betrifft unmittelbar auch die Verantwortung der Kirchen - wenn sie ein Verbot des assistierten Suizids fordern, müssen sie auch konkret und nachdrücklich für die bessere Versorgung der Sterbenden eintreten.

Das Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid und der umfassende Aufbau palliativer Versorgung gehören zusammen. Ein Verbot der organisierten Suizidbeihilfe darf es nicht ohne ein Gesetz zum Ausbau der Palliativmedizin geben.

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