Debatte um Sicherungsverwahrung:Zwischen Mahn- und Polizeiwache

Wegen eines Urteils kommen allein in NRW demnächst 70 Schwerverbrecher aus der Sicherungsverwahrung frei. Weil sich viele Bürger deswegen sorgen, feilen die Behörden an den Auflagen - und manche Verbrecher bleiben freiwillig in Haft.

Dana Hoffmann

"Wegsperren - und zwar für immer!" Was Altbundeskanzler Gerhard Schröder 2001 pauschal für Vergewaltiger gefordert hat, drohte für eine Gruppe von Häftlingen bereits 1998 Wirklichkeit zu werden. Damals verlängerte die Regierung Kohl die maximale Dauer der sogenannten Sicherungsverwahrung von zehn Jahren auf endlos. Straftäter dürfen seitdem auch nach Ablauf ihrer Haftzeit so lange hinter Gittern behalten werden, bis kein Wiederholungsverdacht mehr besteht, wenn ein Richter dies anordnet.

Debatte um Sicherungsverwahrung: "Wegsperren - und zwar für immer!" Die Forderung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder sorgte 2001 für Aufsehen. Kritiker und Befürworter der Sicherungsverwahrung zitieren ihn bis heute.

"Wegsperren - und zwar für immer!" Die Forderung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder sorgte 2001 für Aufsehen. Kritiker und Befürworter der Sicherungsverwahrung zitieren ihn bis heute.

(Foto: AP)

Das verletze die Menschenrechtskonvention, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Mai. Ein Mann hatte vor der höchsten Instanz auf seine Freilassung geklagt. Er war 1986 wegen versuchten Mordes und Raubs zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden - damals noch mit der Höchstgrenze von zehn Jahren. 2001 wäre er also freigekommen, hätte der Gesetzgeber die maximale Dauer nicht 1998 aufgehoben. Der Mann bekam recht und wurde freigelassen.

Häftlinge, die vor 1998 in Sicherungsverwahrung genommen wurden, können nun unter Berufung auf den Fall ihre Freilassung beantragen. Die Begründung: Die maßregelnde Sicherungsverwahrung sei eine verkappte Strafverlängerung. Außerdem seien die Gefangenen von einer endlichen Zeit im Gefängnis ausgegangen, eine endlose Verlängerung könne man ihnen nicht zumuten.

Deshalb könnten in den nächsten Jahren weit mehr Straftäter aus der Sicherheitsverwahrung entlassen werden, als bislang bekannt. Alleine in Nordrhein-Westfalen haben 70 Gefangene die Möglichkeit, die Entlassung zu beantragen und bis 2019 freizukommen. Bislang war häufig von der gleichen Anzahl auf Bundesebene die Rede, diese Zahl konnte das Bundesjustizministerium jedoch auf Nachfrage nicht bestätigen.

Etwa die Hälfte der 70 Männer könnte schon in diesem Jahr in die Freiheit entlassen werden, 15 von ihnen haben bereits einen entsprechenden Antrag gestellt. Ob sie aber tatsächlich entlassen werden, ist fraglich: Das Urteil des EGMR hat keine Bindungswirkung, die Gerichte entscheiden unabhängig in jedem Einzelfall. Das habe zu Folge, dass die Landesgerichte unterschiedliche Entscheidungen treffen, heißt es in einer schriftlichen Erklärung des Bundesjustizministeriums. Um den "Flickenteppich in der Rechtsprechung" zu stopfen, müssen künftig alle strittigen Fälle dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden.

Manche bleiben freiwillig in Haft

In NRW orientiert man sich derweil an einer anderen Instanz: Das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung, nach der Straftäter auf unbestimmte Zeit in Verwahrung bleiben können, als rechtsmäßig anerkannt. Aber auch in Düsseldorf werden Anträge abgelehnt: "Die Gefährlichkeit der Männer ist im Einzelfall zu prüfen", sagt die Sprecherin des Justizministeriums, Andrea Bögge, zu sueddeutsche.de.

Eine Fallkonferenz berät laut Bögge auch über die Zeit danach: "Die Maßnahmen nach der Haftentlassung werden individuell angepasst." Von der Pflicht zum täglichen Besuch in einer Polizeidienststelle bis hin zur 24-Stunden-Überwachung sei alles möglich. Aber, räumt Bögge ein, "natürlich ist nie Sicherheit in dem Maße gewährleistet wie bei der Sicherungsverwahrung".

Mord, Totschlag, Vergewaltigung, aber auch Erpressung und Betrug: Die Straftäter stehen unter Wiederholungsverdacht. Die Angst davor treibt dort, wo ehemalige Inhaftierte wohnen, Nachbarn auf die Straße. So geschehen im nordrhein-westfälischen Heinsberg. Dorthin war ein mehrfach vorbestrafter Sexualverbrecher gezogen, nachdem der Bundesgerichtshof die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgelehnt hat. Wochenlang machten täglich etwa 100 Anwohner ihrer Angst und ihrer Wut Luft und marschierten zum Wohnhaus des Straftäters. "Noch beschützt man dich. Wir wissen, wie du aussiehst" stand auf einigen Plakaten, es herrschte Lynchmobstimmung.

Justizsprecherin Bögge warnt aber vor Hysterie: "Viele der Verwahrten sind in sozial-therapeutischen Einrichtungen untergebracht und werden dort betreut und behandelt." Einige von ihnen wollten zudem womöglich gar nicht freikommen, wie zum Beispiel ein 63-jähriger Vergewaltiger. Der Mann, der seit 40 Jahren in Haft ist, hält sich weiterhin für therapiebedürftig und bleibt deshalb freiwillig in Verwahrung. Dabei hatte das Oberlandesgericht Hamm vor knapp zwei Wochen seine Freilassung genehmigt.

Strafe für Taten, die noch nicht begangen wurden

Verwirrend ist die Debatte, weil sich Diskussionsstränge überschneiden und Begriffe für Laien teils nicht sauber unterscheiden lassen. Neben der vom Richter angeordneten Sicherungsverwahrung ist seit 2004 auch ein kurzfristiges Wegsperren möglich: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung erlaubt es, den Gefangenen selbst dann hinter Gittern zu verwahren, wenn das im Urteil gar nicht vorgesehen war.

Nach dem Urteil in Straßburg ist die Bundesregierung offenbar vorsichtig geworden und hat einen Gesetzentwurf verabschiedet. Danach soll es die Sicherungsverwahrung nur noch geben, wenn diese bereits im Urteil angeordnet ist, oder wenn sich das Gericht eine spätere Anordnung zumindest vorbehalten hat.

Justizministerin gegen nachträgliche Sicherungsverwahrung

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) geht noch einen Schritt weiter und fordert, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nahezu ganz abzuschaffen. Ihr Plan ist es, die Verwahrung nur noch bei schweren Fällen wie Sexual- oder Gewalttätern zu verhängen. Bislang kann jeder Kriminelle, der wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, etwa ein Betrüger oder ein Dieb, Sicherungsverwahrung auferlegt bekommen.

Seit 2004 ist es außerdem erlaubt, einen Täter nach verbüßter Strafe festzuhalten, auch wenn ursprünglich keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Auch für diese Fälle gibt es keine maximale Haftdauer, die Häftlinge werden lediglich alle zwei Jahre auf ihre Gefährlichkeit überprüft. Auch diese nachträgliche Sicherungsverwahrung will Leutheusser-Schnarrenberger gestrichen sehen.

Gegner der Sicherungsverwahrung gehen davon aus, dass sie ohnehin nicht mehr lange Bestand vor dem EGMR haben werde. Sie kritisieren vor allem, dass das nachträgliche Wegsperren eine Strafe für Taten sei, die noch gar nicht begangen wurden.

Die Reform ist auch über die Sommerpause hinweg Thema der Regierungsparteien. Vor allem die Unionsfraktion hat Bedenken an der Abschaffung der Sicherungsverwahrung geäußert. Sie will sich weiterhin dieses Instruments bedienen. Nahezu täglich gibt es verbale Attacken auf die Justizministerin. Das Argument der Christdemokraten: Die Bevölkerung muss bestmöglich geschützt werden. Die geplante Reform gefährde das Wohl der Bürger.

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