Debatte um die EU:Als reine Wirtschaftsgemeinschaft wird Europa scheitern

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Einen Tag nach der Europa-Rede von David Cameron machte Angela Merkel in Davos klar, dass es auch für Großbritannien einen Platz in der EU gebe.

(Foto: Getty Images)

David Cameron will ein anderes Europa - er und die Briten verdienen darauf eine Antwort. Es ist an der Zeit, offen darüber zu sprechen, wie Europa aussehen soll. Andernfalls steht nicht nur Großbritanniens Mitgliedschaft auf dem Spiel, sondern die ganze Union.

Ein Kommentar von Daniel Brössler

Für Anhänger der europäischen Einigung ist dies eine schmerzliche Woche gewesen. In ihr sind, auf sehr unterschiedliche Weise, zwei bedeutende europapolitische Jubiläen gewürdigt worden. In Berlin kamen die Parlamente Deutschlands und Frankreichs zusammen, um des Élysée-Vertrages zu gedenken, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor 50 Jahren unterzeichnet haben. Die späten Nachfolger der beiden, Angela Merkel und François Hollande, hielten Reden über die Verantwortung für Europa.

In London sprach, 40 Jahre nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der britische Premierminister David Cameron. Er hat darüber geredet, dass viele Menschen genug haben von Europa. Es mag sein, dass Cameron die schlechteren Absichten verfolgt hat, aber er hat eindeutig die bessere Rede gehalten.

Falsch, Camerons Rede nur nach ihrer erpresserischen Natur zu bewerten

Natürlich erscheinen die besten Argumente fragwürdig, wenn sie mit gezückter Waffe vorgetragen werden. Dafür ist auch unerheblich, ob die Waffe gegen andere oder sich selbst gerichtet wird - worüber im vorliegenden Fall diskutiert werden kann. Es wäre dennoch falsch, die Rede Camerons nur in ihrer erpresserischen Natur zu bewerten (kurz: Ihr tut, was wir sagen oder wir verlassen die Europäische Union). Auch sollte die Rede nicht nur nach den in ihr enthaltenen Unwahrheiten gewichtet werden, obwohl zumindest die Behauptung, die Briten seien mit der Aussicht auf einen Binnenmarkt gelockt worden und dann in einer Art Völkerkerker gelandet, nach einer Richtigstellung schreit.

Politik und Gesellschaft in Großbritannien wussten vor 40 Jahren sehr wohl, worauf sie sich einlassen. Um den bloßen Beitritt zu einer besseren Freihandelszone hätte es nicht jene dramatischen Konflikte geben müssen, die 1975 mit einem Referendum entschieden wurden, in dem zwei Drittel der Wähler für Europa votierten.

Es gehe, schrieb damals die Times, um ein "demokratisches Europa, das sich in Richtung eines höheren Grades wirtschaftlicher und politischer Einheit bewegt". Europa verhieß den damals abgehängten Briten vor allem aber den Weg zu wirtschaftlichem Fortschritt. Wenn Cameron heute den Eindruck erweckt, die Union bremse und behindere sein Land, schließt sich auf ironische Weise ein Kreis.

Nur notfalls Ausnahmen für Großbritannien

Was der Rede des Premierministers indes ihre Kraft verleiht, ist die Klarheit des in ihr formulierten Ziels. Es ist eine "flexible Union freier Mitgliedstaaten", keine politische Union also, sondern ein Netzwerk mal mehr und mal weniger Gleichgesinnter mit der Mission, den Binnenmarkt in Europa zu vollenden, weltweit Märke zu öffnen und den Wohlstand der eigenen Bürger zu sichern. Dies ist der Kern der Rede Camerons. Es geht ihm nur notfalls um Ausnahmen für Großbritannien. Tatsächlich will er ein anderes Europa. Cameron und die Briten verdienen darauf eine Antwort.

Während der Berliner Feier am Vortag der Cameron-Rede haben sowohl Merkel als auch Hollande gewusst, was der Brite sagen würde. Sie hätten die Chance gehabt, ihre Vision von Europa gegen die Camerons zu stellen. Stattdessen beschrieb der französische Präsident die Union wolkig als "Rechtsraum, Raum des Wohlstands und Raum der Solidarität".

Merkel richtet sich nach der Methode Autowerkstatt

Die Kanzlerin verließ sich zum einen auf die einschläfernde Wirkung ihrer Formeln, in denen es in Variationen um die "Kraft von Frieden in Freiheit" geht und zum anderen auf das Technisch-Praktische - diesmal auf Vorschläge für eine engere wirtschaftspolitische Zusammenarbeit, die Deutschland und Frankreich der Union im Mai zu unterbreiten gedenken.

Es liegt vermutlich auch, aber gewiss nicht nur an den schlechteren Redenschreibern, wenn Merkel und Hollande sich in Europadingen abwechselnd im Ungefähren und im Detail verlieren. Beide stehen unter doppeltem Druck. Sie müssen zum einen die Union, insbesondere aber die Euro-Zone so umbauen, dass sie tatsächlich funktioniert. Zum anderen müssen sie umgehen mit einem europaskeptischen Klima, das Cameron nicht nur für Großbritannien recht zutreffend beschreibt.

Merkel richtet sich dabei nach der Methode Autowerkstatt: Natürlich möchte der Kunde vom Meister hören, was angeblich alles auszutauschen und zu reparieren ist. Es steht am Ende ja auch auf der Rechnung. Und doch haben sich die meisten Kunden daran gewöhnt, es nicht wirklich zu verstehen. Das Geschäft beruht letztlich auf Vertrauen.

Cameron könnte alle Europaskeptiker beflügeln

So schwierig die Lage sein mag, in die Cameron sich innenpolitisch manövriert hat und so isoliert er auch ist im Kreise der EU-Regierungschefs: Seine Botschaft zielt geschickt darauf, das Vertrauen in die kontinentaleuropäischen Krisenmanager zu untergraben. Interessanterweise sind die Reaktionen gerade bei jenen besonders heftig ausgefallen, die den Briten am nächsten oder zumindest sehr nahe stehen - bei den Dänen oder den Polen etwa.

Ihnen ist klar, dass Cameron mit seiner Erpressung in Brüssel nicht weit kommen und insofern die Position der nur gedämpft oder gar nicht europhorischen Regierungen schwächen wird. Sie wissen aber auch, dass Cameron jene in ihren Ländern beflügelt, die schon lange behaupten, dass weniger Europa möglich ist. Es gibt übrigens keinen Grund für die Annahme, dass gerade die Deutschen dagegen immun sein sollten.

Es sind also nicht nur taktische Überlegungen, die Merkel veranlassen, dem Konflikt mit Cameron aus dem Weg zu gehen. Sie scheut, zumal vor der Bundestagswahl, die große Auseinandersetzung über Europa. Dabei fällt auf, dass sie für die Europäische Union dieselben Existenzgründe nennt wie Cameron: Sie soll den Frieden sichern und den Wohlstand verteidigen und mehren. Dafür aber, und hier geht der Punkt an Cameron, würde wohl das flexible Netzwerk genügen, deren Mitglieder unterschiedlich stark miteinander verwoben sind.

Es muss gesagt werden, was Europa ist

Es stimmt, dass Cameron ein hohes Risiko eingegangen ist. Ihm eine ernsthafte Antwort zu verweigern, wäre allerdings ebenso riskant. Gesagt werden müsste, dass die Europäische Union etwas völlig Neues ist. Etwas, das den Nationalstaat nicht verschwinden lässt, aber eine Zusammengehörigkeit schafft, die es auf dem Kontinent nie gegeben hat, und die eigentlich jeder spüren müsste, der Grenzen passiert, die keine mehr sind.

Die Union hat einen riesigen Raum geschaffen, der nicht Inland ist und nicht Ausland. Natürlich geht es darum, Wohlstand zu sichern, aber eben nicht nur. Als reine Wirtschaftsgemeinschaft wird Europa scheitern. Es ist an der Zeit, offen darüber zu sprechen. Andernfalls steht nicht nur Großbritanniens Mitgliedschaft auf dem Spiel, sondern die ganze Union.

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