Debatte um britischen EU-Austritt:Großbritannien ist ein europäischer Staat

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Der britische Premier David Cameron im Mai 2013 in Brüssel: Dass sein Land skeptisch auf die EU blickt, hat auch mit Geschichte zu tun. (Foto: REUTERS)

Lange sind die Briten und ihre altehrwürdige Demokratie ohne das europäische Festland ausgekommen. Ihnen ihre EU-Skepsis vorzuhalten, ist historisch kurzsichtig. Ein Austritt des Vereinigten Königreichs wäre deshalb absurd. Beide Seiten brauchen einander.

Ein Kommentar von Christian Zaschke, London

An diesem Mittwoch erstrahlt der Palast von Westminster in herrlichstem Glanz. Wie in jedem Jahr eröffnet die britische Königin Elizabeth II. das Parlament für die nächste Sitzungsperiode. In einer Kutsche reist sie an, unter enormem Brimborium zieht sie in den Ratssaal des Oberhauses ein, alles ist Ritual, Zeremoniell, Tradition. Auf einem Thron sitzend verliest Elizabeth die Queen's Speech, ihre Regierungserklärung.

Diese Rede wird selbstverständlich nicht von ihr, sondern von der Regierung geschrieben. Nun wäre es deutlich weniger Aufwand, wenn Premierminister David Cameron einfach selbst im Unterhaus vorläse, was er im kommenden Jahr alles vorhat.

Doch sind diese feierlichen Momente von grundlegender Bedeutung für das Selbstverständnis des Vereinigten Königreichs. Mit der Aufführung rekurrieren Königin und Parlament auf Hunderte Jahre der Demokratie. Sie verweisen auf ein Land, das sich seiner Grundfesten so sicher ist, dass es nicht einmal eine geschriebene Verfassung braucht.

Früher ist man gut ohne europäische Hilfe zurechtgekommen

Wenn Politiker dieses Landes nach Brüssel blicken, dann sehen sie die Europäische Union, ein vergleichsweise junges Gebilde, in dem ihrer Ansicht nach Heerscharen von Beamten versuchen, die Mitgliedsstaaten mit Regeln, Verordnungen und Vorschriften zu überziehen. Das ist ihnen suspekt, weil es ihrem Selbstverständnis widerspricht.

Sie sehen zudem ein Gebilde, das immer mehr Zuständigkeiten von den nationalen Regierungen an sich ziehen will, wofür man auf der Insel wenig Verständnis hat. Schließlich ist man in der Vergangenheit gut ohne europäische Hilfe zurechtgekommen und vielmehr umgekehrt im 20. Jahrhundert zweimal in den Krieg gezogen, um den Kontinent vor dem Untergang zu retten.

Wer in diesen Tagen das oft schwierige Verhältnis der Briten zur EU beurteilt, der sollte nicht nur auf das mühsame Klein-Klein schauen, sondern die größere Dimension im Blick behalten. Dass David Cameron nicht will, dass Jean-Claude Juncker Chef der EU-Kommission wird, ist persönlichen, aber vor allem prinzipiellen Erwägungen geschuldet.

Großbritanniens EU-Mitgliedschaft ist für beide Seiten essentiell

Die Briten sind der Ansicht, dass die Staats- und Regierungschefs den Posten besetzen sollten, so wie man eine Verwaltungsspitze besetzt. Sie fürchten, durch das Bestätigen eines zuvor vom Parlament ausgerufenen "Spitzenkandidaten" gelange dieser gleichsam in den Rang des Regierungschefs eines paneuropäischen Staates. Das wollen die Briten auf keinen Fall, und damit stehen sie in der Union nicht allein.

Wer sagt, dass die Briten dann doch bitte austreten sollen, der beweist nicht nur historische Kurzsichtigkeit. Dass Großbritannien Mitglied der EU bleibt, ist für beide Seiten essenziell. Für die EU ist Großbritannien vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu ersetzen. Das Königreich ist Vetomacht im Weltsicherheitsrat, es hat die wohl größte militärische Expertise in der EU und nach wie vor die besten Beziehungen zu den USA. Eine EU-Außenpolitik ohne Großbritannien wäre eine noch schwächere Außenpolitik.

Für die Briten ist die Mitgliedschaft schon allein wegen des Binnenmarkts unerlässlich. Gedankenspiele, der Europäischen oder der Nordamerikanischen Freihandelszone beizutreten oder sich auf das Commonwealth als Handelspartner zu besinnen, sind wirtschaftlich unseriös. Großbritannien ist fest in den Binnenmarkt eingebunden. Britische EU-Skeptiker sagen, man werde eben künftig mehr mit Brasilien, Russland, Indien oder China handeln. Doch allein das Handelsvolumen mit Irland ist größer als das mit allen vier Bric-Staaten zusammen.

Der Premier ist auf die Hilfe der Kanzlerin angewiesen

Vielen in Brüssel gelten die Briten als Bremser und Querulanten, die nur auf ihren Vorteil bedacht sind. Einige Regierungen, darunter die deutsche, können sich in Wahrheit jedoch mit manchen britischen Anliegen durchaus identifizieren. Eine Straffung der Zuständigkeiten und einen Abbau der Bürokratie in der EU sähe man in Berlin ebenso gern wie in London.

Das ist insoweit bedeutsam, als Deutschland eine entscheidende Rolle dabei spielt, die Briten langfristig in der EU zu halten. David Cameron ist darauf angewiesen, dass Angela Merkel ihm eine Verbündete sein wird, wenn es darum geht, Kompetenzen aus Brüssel zurück in die Nationalstaaten zu verlagern.

Ein Erfolg bei entsprechenden Verhandlungen ist für den Premier innenpolitisch überlebenswichtig, da er sonst weder den europaskeptischen Flügel seiner Partei noch die Bedrohung durch die europafeindliche Ukip-Partei in den Griff bekommt. Dass damit die politische Zukunft des britischen Premiers zu einem nicht kleinen Teil in den Händen der deutschen Kanzlerin liegt, ist eine historische Pointe, die im geschichtsbewussten Großbritannien nicht unbemerkt bleibt.

© SZ vom 04.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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