DDR-Bürgerrechtler Templin über die Wende:"Wir haben uns über den Runden Tisch ziehen lassen"

Wolfgang Templin

Wolfgang Templin auf einem Foto aus dem Jahr 2008

(Foto: Frank Ebert / CC-by-sa-3.0)

Wolfgang Templin galt für das DDR-Regime als Staatsfeind. 25 Jahre nach dem Mauerfall spricht er über Mobbing-Methoden der Stasi, seine Perspektive auf die Wende und sagt, was ihn an Kanzlerin Merkel stört.

Von Kathrin Haimerl

Wolfgang Templin, 65, war einer der wichtigsten DDR-Bürgerrechtler und Mitgründer der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Für die Stasi zählte er zu den gefährlichsten Staatsfeinden, denn Templin arbeitete mehr als zwei Jahre mit der Staatssicherheit zusammen, ehe er sich selbst enttarnte. In Polen lernte er einen Vorläufer der Gewerkschaft Solidarność kennen. Die Verbindung nach Osteuropa sollte für seine Rolle in der DDR-Opposition und auch für seine spätere politische Arbeit zentral werden. Heute beschäftigen ihn vor allem die Geschehnisse in der Ukraine.

SZ.de: Herr Templin, wo waren Sie am 9. November 1989, dem Tag, an dem die Berliner Mauer fiel?

Wolfgang Templin: In Hamburg. Weil ich zwangsausgewiesen wurde.

Wie kam es dazu?

Ich wollte die DDR nicht verlassen. Ich wollte im Gefängnis bleiben, ich wollte es auf einen Prozess ankommen lassen. Dann kam die Ansage: Ihre Frau ist auch im Gefängnis, nun kümmern wir uns um Ihre Kinder. Unter diesem Druck haben wir entschieden: Gut, wir gehen. Aber wir gehen mit DDR-Pass, weil wir zurück wollen. Wir wollten das Ende von innen erleben. Zunächst waren wir draußen, saßen in der Bundesrepublik, konnten in jedes Land der Welt, nur ins eigene nicht. Wenn wir es versuchten, wurden wir abgewiesen und zurück in den Westen geschoben. Bis zum 9. November 1989.

Die DDR-Bürger drängten in den Westen - und Sie wollten in die andere Richtung. Wie ist Ihnen das schließlich gelungen?

Am Freitag, 10. November, versuchte ich, zurückzukommen und scheiterte an der Transitstrecke. Ich bin dann per Flugzeug illegal nach Westberlin, bin am Übergang Invalidenstraße mit meinem DDR-Pass zurück in den Osten und war überglücklich. Die anderen müssen sich gedacht haben: Da kommt ein Verrückter und schwenkt seinen DDR-Pass! Rennt über den Grenzübergang, mittenrein in die Menge derer, die rauswollen, und jubelt. Am 27. November, an jenem Tag, an dem Helmut Kohl seine Föderationsthesen vertreten hat, kehrten wir ganz nach Ostberlin zurück. Unsere Entschiedenheit, die DDR-Staatsbürgerschaft nicht aufzugeben, hatte ja nicht nur symbolischen Wert. Denn ich konnte als DDR-Bürger am Runden Tisch teilnehmen, wo die Opposition erstmals offiziell auf Augenhöhe auftreten durfte. Diejenigen von uns, die sich in die Ausbürgerung hatten treiben lassen, die unter noch höherem Druck unterschrieben hatten, waren Bundesbürger geworden.

Die Protagonisten der friedlichen Revolution waren nach dem Mauerfall bald kaum mehr sichtbar, Ihr Bündnis 90 erreichte gerade einmal drei Prozent bei der Volkskammerwahl. Hat der Westen die DDR vereinnahmt?

Ich sehe das nicht so einseitig, Es gab auch eine Menge hausgemachter Gründe. Überspitzt gesagt: Wir haben uns über den Runden Tisch ziehen lassen. Ich verteidige bis heute den Runden Tisch als Chance des Kompromisses und des friedlichen Ausgleichs. Diese ganzen freundlichen SED-Gestalten, von Modrow bis Gysi, aber auch die Akteure der Blockparteien, spielten ein doppeltes Spiel: Sie sicherten das politische Leben der SED-Nachfolgepartei oder arbeiteten heimlich mit den westlichen Polit-Profis von der Allianz für Deutschland (die von der CDU angeführt wurde, Anm. d. Red) zusammen, brachten blitzschnell ihre Schäfchen ins Trockene. Sie nutzten die Zeit in klassisch politischer Manier und entschieden den Wahlkampf zu ihren Gunsten. Wir hätten keine Mehrheit erreichen können. Aber mit einem stärkeren Gewicht, mit einigen Prozentpunkten mehr, hätten sich durchaus andere Akzente im Einigungsprozess setzen lassen.

Welche Akzente hätten Sie setzen wollen?

Ich hätte mir gewünscht, dass die sozialen Kosten des Reformprozesses nicht so hoch gewesen wären. Die Chancen und die Belastungen der Wiedervereinigung waren sehr ungleich verteilt. Wer es aus eigener Kraft schaffen wollte, hat das auch getan. Menschen hingegen, denen das Selbstbewusstsein, aber auch die Erfahrung fehlte, haben kapituliert.

Inwieweit hat der Westen beim Umgang mit diesen Menschen Fehler gemacht?

Die westliche Seite hat sich geweigert, jene gut ausgebildeten Bürger an dem Prozess zu beteiligen, die schon in der DDR ihren eigenen Weg gegangen sind. Man hätte Möglichkeiten schaffen können, diese auf entscheidenden Ebenen einzubinden. Stattdessen saß dort eine Mischung aus westlichen Politprofis und alten Kadern. Wie gut das zusammenpasste, hätte ich mir selbst nicht vorstellen können. Ich dachte immer, wenn die Demokraten aus dem Westen kommen, dann müssen die doch in der DDR nach Demokraten suchen. Die gab es ja auch. Zum Beispiel in meinem Umfeld. Viele hätten sich gut vorstellen können, so eine neue Herausforderung anzunehmen. Aber stattdessen kamen die sogenannten Blockflöten zum Zug. Leute, die sich in den regimetreuen Parteien wir der Ost-CDU engagiert hatten. Das war dann zwar nicht der kapitale Täter, aber einer, der immer gewusst hatte, mit wem er sich gutstellen musste.

Heute, 25 Jahre später, haben wir eine Kanzlerin aus dem Osten und einen Bundespräsidenten aus dem Osten. Sind die Versäumnisse damit geheilt?

Mit Bundespräsidenten Joachim Gauck ist tatsächlich ein kleines historisches Wunder gelungen. Dass er die eigene Ost-Identität so präsent gemacht hat, das hat unheimlich geholfen - auch in der realistischen Sicht auf die DDR. Diesbezüglich empfinde ich Riesenfreude und Erleichterung.

Und bei Kanzlerin Angela Merkel?

Bei ihr ist meine Wahrnehmung geteilt. Ich sehe durchaus ihre Qualitäten. Die Art und Weise, wie sie die politische Klasse West überrundet hat, das ist ein Lehrstück in Sachen politischer Lernprozess. Sie zeigt, welche Qualitäten man in der DDR auch sammeln konnte. Aber ihre Politik finde ich nicht optimal für Deutschland. Das ist eine Politik des Aussitzens, des Wegschiebens. Allerdings hätte ich keine bessere Alternative zur Großen Koalition. Bei Rot-Rot-Grün würde mir der Atem stocken.

In Thüringen zeichnet sich eine rot-rot-grüne Koalition ab. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach bezeichnete kürzlich einen Ministerpräsidenten Ramelow als bitteren Moment für die Opfer des SED-Regimes. Wie geht es Ihnen bei der Vorstellung?

Ganz so dramatisch sehe ich das nicht. An Thüringen wird die Welt nicht untergehen. Aber ich bin mit Ramelow auch nicht glücklich. Mit ihm hätte ich zwar nicht das größte Problem. Er ist clever und hat einen bürgerlichen Habitus. In der Gesamtheit ist die Linke jedoch politisch für mich völlig inakzeptabel. Wenn ich Thüringen als Vorbild für die Bundesebene sehen würde, hätte ich Bauchschmerzen.

25 Jahre nach dem Mauerfall - wo steht das Land in der Aufarbeitung des SED-Regimes?

Da ist eine Menge passiert. Das DDR-Bild, das viele der damals Beteiligten und der Nachgeborenen heute haben, ist schon sehr zutreffend. Ich nenne es: Differenzieren bis zur Kenntlichkeit. Ein Bild, das die DDR in ihren Schattenseiten sehr wohl erkennt, ohne sie zu verteufeln und zu dämonisieren. Es war eine Diktatur und ein Unrechtsstaat. Zugleich gab es zehnmal schlimmere Diktaturen und Lebenssituationen. Das nimmt der DDR nichts von ihrem Unrecht. Aber es gab in dieser Diktatur ein Alltagsleben, das viele ziemlich stabil und ohne permanente Angst geführt haben.

Wie sah das aus?

Für viele war die DDR voller kleiner Inseln. Davon könnte man Tausende Geschichten erzählen. Das konnten Aussteiger in Mecklenburg sein. Das waren die Alternativ-Leute in Ostberlin oder irgendwo in der tiefsten Provinz, wo man versucht hat, eine kleine, abgeschottete Insel zu bauen, auf der man sein eigenes Leben führen konnte. Das ging mit dem Kontrollwahn des Staates nur begrenzt. Aber wer sich politisch nicht allzu weit vorwagte, hatte die Chance, relativ unbehelligt zu bleiben.

"Wir feierten die wildesten Feten"

25 Jahre Mauerfall

Glücklich über die Reisefreiheit: DDR-Bürger auf der Berliner Mauer am 10. November 1989.

(Foto: dpa)

Sie hingegen wurden Opfer einer der intensivsten Mobbingmaßnahmen der Stasi. Was hat man mit Ihnen gemacht?

Ich gehörte ja vor meiner Zeit in der Opposition zu den Elite-Kadern. Deswegen auch der Titel meiner Akte: Verräter. Für die war ich der Ausgestiegene, der Renegat, der Verräter. Den kleinzukriegen, den mürbezumachen, darauf hat die Stasi eine ziemliche Anstrengung verwandt. Es ist ihnen nicht gelungen. Aber der Preis, den ich damit meiner Familie zumutete, war hoch. Sie machten das Alltagsleben kaputt. Dazu gehörte es etwa, Romeos (Agenten, die sich gezielt an Frauen heranmachen sollten - Anm. d. Red.) auf die Frauen der Oppositionellen anzusetzen. Oder unseren Kindern in den Schulen Druck zu machen. Uns wurden alle Berufschancen genommen, unsere Familien wurden in Sippenhaft genommen. Die meisten von uns mussten sich als soziale Parias durchschlagen.

Wie hält man diese extreme Minderheitenposition aus?

Mit einer Gegenwelt. Eine, in der andere Maßstäbe gelten. Wie dieser: Wir helfen uns in jeder Situation. Wenn einer wirklich nicht mehr durchkam, dann wurde auch Geld gesammelt. Oder sich gegenseitig gestützt, getröstet. Wir feierten die wildesten Feten. Jeder Geburtstag wurde zu einem Gruppentreffen, Kindergeburtstage verwandelten sich in politische Veranstaltungen. Das war ein eigener sozialer Raum, der weit über '89 hinaus funktionierte. Dazu gehörte politischer Streit genauso wie ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Zu wissen, wie viel schwerer und härter die Bedingungen für andere waren, die Ähnliches in anderen Ländern wollten. Wenn ich an die sowjetischen Dissidenten denke: Der Gulag existierte bis in die 80er Jahre unter Gorbatschow, da gab es Hungerrevolten, Menschen kamen ums Leben. Da sind wir noch glimpflich davon gekommen.

Was hätten Sie sich im Herbst 89 erträumt?

Dass es einem Land wie der Ukraine gelungen wäre, einen ähnlichen Reformweg einzuschlagen wie Polen. Was mir ukrainische Freunde häufig sagen: Dass sie genau das damals wollten und noch mehr als 20 Jahre warten mussten. Dass es jetzt wirklich konsequent auf diesen Weg geht. Die Chance dieser ganzen Region wird allerdings davon abhängen, wie lange sich Russland diesem Weg in Demokratie, in den Rechtsstaat, noch verweigert.

Ist die Maidan-Bewegung mit der DDR-Bürgerrechtsbewegung vergleichbar?

Im großen historischen Sinne ja. Es gab bereits 89 Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ukraine. Viele fragten sich: Warum soll das, was die Polen, was die Deutschen können, bei uns nicht auch möglich sein? Es kam aber nicht dazu. Die Ukraine blieb eine Art Zwitterwesen, ein unabhängiger post-sowjetischer Staat. 2004 dann kam der erste Anlauf, der mich auch schon an 89 erinnerte. Und jetzt, zehn Jahre später, haben wir wieder eine solche Situation. Und da habe ich - bei aller Verschiedenheit sehr, sehr ähnliche Bilder vor Augen.

Was meinen Sie damit?

Die Gewalt, die kriegerische Auseinandersetzung hätte auch bei uns kommen können. Die Panzer standen 1989 bereit. Das war überhaupt nicht gesetzt, dass die Revolution so friedlich verlaufen würde. Für mich drängen sich da viele Parallelen auf. Auch in der Mentalität der Maidan-Kräfte. Ich erkenne mich da in der eigenen Biographie wieder.

Bei der Wahl in der Ukraine wurde die Partei der Maidan-Aktivisten drittstärkste Kraft. Was raten sie ihnen für die künftige politische Arbeit?

Seid bereit zu Kompromissen, aber wachsam wie ein Luchs, wenn ihr sie eingeht. Lasst euch keinen Moment einwickeln. Lasst euch nichts vormachen von denjenigen, die auf der anderen Seite einen Kompromiss mitgestalten wollen. Was sind deren Interessen, wer sitzt euch gegenüber, was erzählen sie, was haben sie noch in der Hinterhand? Und für diejenigen, welche Teil der zivilen Gesellschaft geblieben sind. Bleibt euren Weggefährten in der Politik intensiv auf den Fersen. Lasst das Band zwischen euch nicht zerreißen. Man braucht im höchsten Maße die Bewusstheit der eigenen Geschichte, um weiterzukommen.

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