Datenbank "Europeana 1914-1918":Wie eine Bibel den Soldaten Geiler rettete

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Reproduktion einer deutschen Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg, die im Rahmen des Projekts Europeana 1914-1918 entstand. Die Aufnahme zeigt russische Kriegsgefangene und deren deutsche Bewacher. Man beachte den auf den Waggon gekritzelten Galgen. (Foto: dpa)

Im Internet ist die größte virtuelle Sammlung zum Ersten Weltkrieg verfügbar. Das Projekt Europeana zu den Kriegsjahren hat 80.000 Dokumente und Objekte aus Archiven und Privathaushalten digitalisiert. Allein mehr als 660 Stunden Film kamen zusammen - und auch eine Postkarte des Gefreiten Hitler.

"Mit herzlichen Grüßen von der Front" - ziemlich lange halten die Soldaten des Ersten Weltkriegs den Schein der Normalität aufrecht. Wie Urlaubsgrüße muten die Botschaften in die Heimat an. Postkarten aus der Ferne für die Lieben daheim, mit Fotos von Landschaften, Straßenzügen, Häfen. Solche Feldpost und andere Erinnerungsstücke aus dem Krieg sind nun im Internet zu besichtigen. Hundert Jahre nach dem Kriegsausbruch entsteht mit der Datenbank "Europeana 1914-1918" ein Netz der Erinnerung über Grenzen hinweg.

Bereits seit 2011 sammelt das EU-Projekt die Zeugnisse aus dem "Großen Krieg", wie in manchen Ländern noch heute das Gemetzel genannt wird, das vor bald 100 Jahren begonnen hat. Die Koordination von Europeana liegt bei der Staatsbibliothek Berlin.

Bürger können in Bibliotheken die Fundstücke aus Familienbesitz vorlegen. Die Objekte werden dort eingescannt oder fotografiert und mit genauen Angaben über Herkunft und Eigentum online gestellt. "In vielen Familien werden diese Stücke bis heute aufbewahrt - jetzt können sie in einem größeren historischen Zusammenhang betrachtet werden", sagt der Historiker Frank Drauschke, der die bislang 130 Aktionstage auf deutscher Seite koordiniert.

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Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.

An diesem Donnerstag (30. Januar) und Freitag jeweils von 10.00 bis 18.00 Uhr werden in der Berliner Staatsbibliothek die Fundstücke aus Familienbesitz entgegengenommen und digitalisiert. Sie können danach wieder nach Hause mitgenommen werden.

Die Beiträge werden auf der Europeana-Website veröffentlicht. Wissenschaftler und Kulturinstitutionen sollen in Zukunft die Objekte für Forschung und Bildung erschließen. Mittlerweile sind unter www.europeana1914-1918.eu mehr als 80.000 Objekte und Dokumente aus zwölf Ländern digitalisiert. Allein mehr als 660 Stunden Filmmaterial sind bislang zusammengetragen worden.

Abzeichen, Fernrohre, Helme

Zum Beispiel von Hans Beck. Der Grenzwächter, der an den Folgen eines Lugenschusses aus dem Jahr 1917 starb, hinterließ seiner Familie ein Miniaturkartenspiel mit Konterfeis deutscher Persönlichkeiten aus Militär und Politik.

Oder Hugo Honrath (1897-1984). Seine Nachfahren haben eine ganze Sammlung ins Netz gestellt mit Fotos, Aufzeichnungen, Anekdoten, die er als Telegrafist in Rumänien und später in der Ukraine sammelte.

Von einem Soldaten, der später die Welt in noch einen schlimmeren Krieg stürzen sollte, tauchte schon 2012 ein Fundstück im Rahmen des Europeana-Projekts auf. Eine Postkarte des Österreichers Adolf Hitler, der ab 1914 in einer bayerischen Einheit als Gefreiter diente. Die Karte schrieb der spätere Nazi-Diktator von der Westfront. Aus dem vergilbten Papier wird ersichtlich: Hitler hatte schon als junger Mann schlechte Zähne, eine Vorliebe für Nürnberg - und Probleme mit der deutschen Rechtschreibung.

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Auch die Geschichte des Soldaten Kurt Geiler wird durch die Datenbank der Öffentlichkeit bekannt. Schon Jahre hatte er an der Westfront in Nordfrankreich gekämpft, als eine Granate in seinem Unterstand einschlug. Anders als seine Kameraden überlebte Infanterist Geiler unverletzt - dank einer Bibel. Geiler hatte sich das Buch zum Schlafen unter seinen Kopf gelegt. Nach dem Einschlag steckte ein Granatsplitter darin, statt in Geilers Schädel. Der inzwischen 88-jährige Sohn des Soldaten sorgte dafür, dass Bibel und Geschichte Teil der Datenbank wurden.

Zwar sei die kollektive Erinnerung an den "Großen Krieg" vom Horror des Zweiten Weltkrieges und dem Holocaust überlagert. "Doch die Objekte aus dem Ersten Weltkrieg lösen starke Gefühle aus", sagt Drauschke. Schließlich sei von jeder Familie jemand in den Krieg abkommandiert worden. In den Erzählungen seien die Erfahrungen mit der Katastrophe von Generation zu Generation weitergegeben worden. Abzeichen, Fernrohre, Helme - Drauschke berichtet von sehr emotionalen Momenten, wenn Familien ihre Fundstücke präsentieren.

So verwebt Europeana Einzelschicksale zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung, bei der auch die nationalen Eigenschaften deutlich werden. "Besonders die Deutschen haben viel gesammelt", sagt Drauschke. Freilich hielt sich der Optimismus der ersten Kriegsmonate nicht lange. "Je mehr der Krieg im Schlamm stecken blieb, desto düsterer wurden die Briefe", sagt der Historiker.

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Von Michele Brambilla (La Stampa)
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